Kairos Inspirationen 2024/2025

Kairos Inspirationen 2024/#36 – 6. Oktober 2024

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Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.

 

Ludwig Wittgenstein

 

Naturgemäß geht es in den Kairos Inspirationen um Kairos, die bedeutungsvolle Zeit. Aber wie wird dieses Wort wann gebraucht? Anders gefragt: um welches Kairos Verständnis geht es uns dabei? Wenn wir sagen, dass alles seine Zeit hat, dann wäre es widersinnig, hier zu behaupten, eine objektive überzeitliche Wahrheit zu besitzen.

 

Wir dürfen uns daran erinnern, dass auch wir selbst Teil eines bestimmten geschichtlichen „Sprachspiels“ (Wittgenstein) sind. Kein Begriff kommt ohne ein solches aus. Und jedes Sprachspiel ist letztlich Ausdruck eines bestimmten geschichtlichen Lebensspiels.

 

Ohne Zweifel gelten die kairologischen Zeiteinheiten und Entfaltungsmuster für alle Menschen bzw. kulturellen Systeme. Aber daraus folgt nicht, dass alle Menschen diese so in seiner Bedeutung wahrnehmen könnten. Zwar kann ich bezeugen, dass in der Gegenwart nicht wenige Menschen fähig sind, solche Erkenntnisse für bedeutungsvoll zu halten. Und wer im Internet schaut, wird entdecken, dass das Interesse an dem Thema Kairos stark zunimmt. Aber hat die Bedeutung, die dieser Begriff bei uns jetzt gewinnt, viel zu tun mit dem, was er im antiken oder frühchristlichen Sprachspiel bedeutet hat?

 

Lasst uns der Frage kurz nachgehen. Kairos ist in der griechischen Antike der jüngste Sohn des Zeus, also ein Gott des Augenblicks, ein Moment der Gegenwart in seiner Bedeutung. Wenn wir von bedeutungsvoller Zeit reden, ist das also im antiken Sprachspiel ein Gott. Überall, wo es gilt, gegenwärtig zu sein, ist er im Spiel. Wie auch das sonstige antike Denken nicht räumlich, sondern gegenständlich, punktförmig ist, so auch das Verständnis von Kairos. Man fragt nicht nach der Ordnung des Kairos, sondern bleibt beim Bewusstwerden des Augenblicks.

 

Ganz anders ist die Sichtweise von Kairos im Neuen Testament, der dort über 70 Mal vorkommt. Von Kairos ist die Rede, wenn es um die geschichtliche Zeit Gottes geht. Kairos ist bezogen auf das, die ganze reale Geschichte durchziehende Fluidum des göttlichen Plans. Gott hat hier einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende gesetzt. Im Judentum wird es vorgestellt im Erscheinen des Messias, im Christentum als Wiederkunft Christi. Es ist hier undenkbar, die Zeit zurück und nach vorne ins (nahezu) Unendliche auszudehnen. Innerhalb des vorbestimmten Weges haben auch die Völker (ethnoi) ihre eigenen kairoi (siehe zum Beispiel Lukas 21,24). Doch in allen Fällen ist mit dem Anfang der Zeit schon das Ende gegeben. Jeder Punkt ist dieser göttlichen Zeitordnung unterworfen und nur von da her zu sehen und zu erleben.

 

Das lateinische Sprachspiel hat sich von der göttlichen Tiefe des Kairos schon so entfernt, dass es dafür nicht einmal ein Wort hat. Die lateinische Bibelübersetzung identifiziert somit Kairos mit Tempus oder Tempora. Entsprechend wird auch in der aktuellen deutschen Einheitsübersetzung Kairos mit Zeit oder Zeiten übersetzt. Dadurch verschwindet seine tiefere Qualität.

 

Das Mittelalter war sich noch bewusst, dass die Zeit grundsätzlich erst aus der Beziehung zu Gott und seiner Schöpfung erwächst. Die Renaissance wusste noch um den Kairos als ein Phänomen, das in Beziehung zur sinnvollen Sternkunde, der Astrologie, stand. Je mehr dann die leere, für alles offene Zeit im Ticken von Uhren gesehen und gehört wurde, desto mehr entleerte sich auch der Bezug von Kairos zum Gesamtzusammenhang des schöpferischen menschlichen Werdens. Kairos wurde zur günstigen Gelegenheit, zum Glauben an einen Vorteil, den man nach Möglichkeit nicht versäumen sollte.

 

Wir sind dabei, Kairos für uns neu entdecken. Das heißt auch, ihn wieder in die Mitte des abendländischen Sprachspiels zurück zu holen. Dabei ist die Frage, ob dieser Kairos nun als Gott oder als Ausdruck einer göttlichen Geschichtsbestimmung verstanden wird, für unseren Sprachgebrauch zweitrangig.

 

Wenn Chronos die Funktion der messbaren, vom Menschen wahrgenommenen Bewegung der sichtbaren Realität ist, dann ist Kairos die Funktion der energetischen Bewegung der vom Menschen wahrgenommenen Welt. Was hier mit energetisch gemeint ist, drückt sich am besten in dem Wort Bedeutung aus. Bedeutungsvoll kann für uns ein Zeitpunkt nur sein innerhalb einer Dynamik, die Anfang und Ende auf vielen Ebenen hat. So gebrauchen wir Kairos in einer sinnvollen und erhellenden Weise.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#35 – 29. September 2024

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KI ist gefährlicher als Atombomben.

 

Elon Musk

 

Wer am PC heute die Programme von Microsoft oder Adobe verwendet und Texte formulieren möchte, dem wird angeboten, sich bei der Abfassung von der künstlichen Intelligenz (KI) helfen zu lassen. Das werden nicht wenige in Anspruch nehmen. Es ist bequem und hilfreich, wenn die eigene Ausbildung der deutschen oder fremden Sprache nicht mehr tief und grammatikalisch wie auch rechtschreibmäßig sicher ist.

 

Gleichzeitig merkt man, wie die KI lernt und sich immer mehr dem eigenen Denk-und Schreibstil anpassen kann. Ohne dass man darüber nachdenkt, führt dies dazu, dass man sich nicht nur daran gewöhnt, sondern anerkennt, dass sie einem, zumindest in diesem Bereich, überlegen ist.

 

Auf scheinbar ganz natürliche Weise wird so ein bestimmtes Grundmuster der Selbst- und Weltanschauung eingepflanzt. Dieses Grundmuster ist nicht neu, aber durch sein technologisches Gewand nur schwer wiederzuerkennen. Es hat sich schon zweimal in unserem geschichtlichen System durchzusetzen versucht. Das erste Mal im 13. Jahrhundert in der Schicht der geistig Gebildeten des christlichen Abendlandes, das zweite Mal im 17 Jahrhundert über den Denkansatz von René Descartes.

 

Bleiben wir heute beim Bezug zum ersten Versuch. Damals wie heute ging es um die Frage, wie den Menschen die Ewigkeit zugänglich und gewiss sein könne. Im geistlichen Gewand ging es genauerhin darum, wie der Mensch nach dem Tode fortbestehen könne.

 

Die einen hielten sich an Aristoteles, der geschrieben hatte, dass die Seele immer an den Körper gebunden und ohne diesen sinnlos sei. Für Aristoteles folgte daraus, dass mit dem Körper auch die Seele sterbe.

 

Die andere Sicht ging auf Platon zurück. Hier war die Seele wesentlich eine Ausdrucksform des ewigen Reiches der Ideen. Im irdischen Leben erinnerte sie sich mehr oder weniger an jene Welt. Im Tod löste sie wieder die oberflächliche Verbindung mit dem irdischen Körper.

 

Die Kirche des Mittelalters suchte beide Ansätze zu verbinden. Man sprach von der Geistseele, die den äußeren Körper „formen“ würde. Die Idee von der Geistseele sollte also beide Vorstellungen verbinden. Weil die Seele als Geist nicht stirbt, hat sie das ewige Leben. Weil die Seele als Lebensseele immer in Verbindung mit dem „Leib“, dem Körper des Lebens, bleibt, ist das ewige Leben ein einmalig persönliches Leben und eine Wiedergeburt nicht möglich und notwendig.

 

Was so abstrakt klingt, hatte sehr praktische Folgen. Eine davon war im christlichen Raum die absolute Durchsetzung der Beerdigung. Denn ewiges Leben war nur in Beziehung zum konkreten Leib möglich. Nur bei einer Beerdigung statt einer Verbrennung konnte die Vorstellung im Ansatz bewahrt werden. Der Leib würde beim jüngsten Gericht mit der Seele in gereinigter Form wieder vereinigt werden. Allerdings konnte sich dieses Modell der individuellen Geistseele gegen die Annahme einer kollektiven ewigen Geistseele erst auf dem Konzil von Vienne 1311 endgültig durchsetzen. Vor allem in den geistlichen Orden wurde zuvor massiv für den absoluten Vorrang des Geistes gekämpft.

 

Genau in einem solchen Kampf stehen wir 800 Jahre später erneut. Aus dem religiösen Geist ist inzwischen der technologische Geist der KI geworden. Die künstlich virtuelle Welt wird immer mehr zur realen Welt. Was mein Auge sieht, erhält erst seinen bleibenden Wert durch das digitale Verewigen über Foto und Video. Was ich schreibe, wird gewöhnlich sofort meiner überirdischen Welt des Computers oder gar der kollektiv überirdischen Welt einer Cloud anvertraut.

 

Der Wunsch der technologischen Eliten geht weiter. Die KI soll zur „Seele“ unseres realen Lebens werden. Schon heute gilt: das Internet vergisst nicht. Das Ideal der Zukunft liegt darin, dass du dich als ganze Person der technologischen Intelligenz überlässt, freiwillig oder erzwungen. Der Dank für die Bereitschaft zur völligen Digitalisierung und intelligenten Programmierung deines Körpers liegt darin, dass du glauben darfst, dass dein Wesen gleichsam ewig in seiner Informationsvielfalt erhalten bleibt.

 

Natürlich halten das viele heute noch für wahnwitzig, zeigt sich doch die KI dem einzelnen im Alltag nur als bescheidener Helfer. Aber das 21. Jahrhundert wird vom Kampf um diese höhere Sinnstiftung beherrscht bleiben. Erst am Ende wird die Elite einsehen (müssen), dass dieses Modell einer absoluten Beherrschung der menschlichen Person gescheitert ist. Wo wird ab 2090 das neue Konzil von Vienne stattfinden?

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#34 – 22. September 2024

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Alles, was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand.

 

Charles Baudelaire

 

Wir alle kennen den Spruch: Die Katze lässt das Mausen nicht. Warum? Das ist ihre Natur. Genauso hat jeder von uns ein instinktives Verhalten, seinen Charakter, seine scheinbar unveränderlichen Muster. Tatsächlich können wir uns zwar eine Zeitlang verstellen, anders handeln und reden, als wir sind, aber nicht auf Dauer.

 

Der Satz von Baudelaire lässt sich aber noch tiefer verstehen. Weder die tierähnlichen Instinkte noch die vielfältigen Prägungen verkörpern die ursprüngliche Natur des Menschen.

 

Seine ursprüngliche Natur ist, immer mit allem in einem Resonanz- und Kommunikationsverhältnis zu sein. Alles und jeder ist für uns eine Möglichkeit, mit der ich mehr oder weniger in Beziehung gehe. Angeblich fällen wir, so die Psychologie, bis zu 20000 Ja/Nein-Entscheidungen täglich. Die meisten dieser Entscheidungen bleiben gleich. Sie werden uns gewöhnlich gar nicht bewusst. Auf längere Sicht bemerkt jeder Veränderungen. Bei Kindern sind sie auch von außen leicht zu erkennen, bei Erwachsenen bleiben sie oft verdeckt und verdrängt.

 

Warum aber diese ständige Bewegung? Diese unsichtbare Wirklichkeit enthält eine eigene Dynamik. Die Natur des Menschen ist nicht, sondern wird ständig. Sie ist so, dass sie nicht unmittelbar zu etwas zwingt. Ich kann immer ausweichen, mich verschließen, mit dem Bewusstsein dagegen arbeiten, sie ignorieren.

 

Doch auf Dauer komme ich ihr nicht aus. Sie bringt sich in Erinnerung, nicht selten verkleidet oder materialisiert. Typisch dafür ist das Auftauchen von Krankheiten. Jemand, der lange die Behandlung von Krankheiten studiert hat, schrieb einmal: „Ich glaube, dass wir krank werden, wenn wir zu sehr von unserem Seelenplan abweichen, sprich, ein Leben leben, was nicht wirklich unseres ist. Die Lösung läge also darin, in sich rein zu hören und der inneren Stimme wieder mehr Beachtung zu schenken.“

 

Für mich ist der Kern des „Seelenplans“ jene Dynamik, die sich im Kairos zeigt. In ihm vereinigen sich „Plan“ und schöpferische Bewegung. Auf die „innere Stimme“ zu hören, heißt von da her auch, auf die innere Zeit zu hören. Sie ist nicht neutral, sondern hat gleichsam eine Richtung. Ihr Ziel ist, die eigene menschliche Natur bis zur maximalen Ganzheit zu entwickeln. Soweit wir diesen Weg gehen, gehen wir auch anders um mit dem, was wir Krankheit nennen.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#33 – 15. September 2024

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Den „Kairos“ zu finden, das ist eine Form der Weisheit.

 

Frieder Lauxmann

 

Jeder von uns kann den Kairos auf verschiedenen Ebenen erfahren. Zunächst wird er als unmittelbarer schöpferischer Anspruch erlebt. So hörst du beispielsweise einen inneren Anruf im Hier und Jetzt. Es ist der schöpferische Augenblick einer Gewissheit, der Entscheidung, des Handelns. Es sind jene „Sternstunden“, in denen sich manchmal die Kraft und Bedeutung eines ganzen Lebens oder einer Epoche zusammenballt. Wer in einer solchen Situation seinen Kairos zulässt, gewinnt Großes.  Wer zögert oder weghört, verliert die Kraft.

 

Kairos kann auch als Harmonie schöpferischer Schwingungen von Menschen, Gruppen Völkern wahrgenommen werden. Jeder von uns kann erleben, wie es Zeiten maximaler schöpferischer Kraft und ebenso „Wellentäler“ gibt. Wir erleben auch, wie der Drang, ein Problem zu lösen, von innen her zu- oder abnimmt, sich für eine gewisse Zeit alle Kraft darauf konzentriert. In ähnlicher Weise wachsen makrohistorisch zu bestimmten Zeiten Spannungen, sodass immer mehr Menschen von einer Art Fieber, einer kollektiven Bereitschaft zu etwas, erfasst werden können.

 

Kairos kann auch als die Einheit eines geistigen Raumes erfahren werden, in dem sich die Wirklichkeit ordnet. Er ist der energetische Kern jeder echten Aufgabe, ordnet sie ins Ganze ein, gibt ihr die rechte Zeit und Bedeutung. Ein Gedanke, ein Buch, die Organisation einer Firma können einen Kairos ausdrücken, sofern all dies optimal gelungen, maximal auf ein Ziel hin geordnet ist.

 

Zuletzt kann sich die Wirklichkeit des Kairos für uns in dem zeigen, was als Objektivität der Welt wahrgenommen wird. Hier erscheint der Kairos nicht mehr als flüchtiger Augenblick, sondern als sein Gegenteil, als unveränderbare Dauer. Kairos scheint aus dem Bewusstsein verschwunden zu sein, wenn es um das geht, was gerade fraglos als Tatsache oder „Objektivität“ anerkannt ist.

 

Kairos kann sich also sehr vielfältig offenbaren. Doch Vorsicht! Hier ist ständig die Rede vom „kann“. „Kann“ und „ist“ aber liegen häufig, ja meist auseinander.

 

Unser Problem sind die Vorstellungen und Bilder, die wir uns von allem machen. Jedes Bild, jeder Begriff verfestigt. Natürlich kommen wir den Bildern, der Sprache, den Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft nicht aus. Kairos aber verlangt, sie wieder loszulassen.

 

Da trifft eine Frau einen Mann. Sie entbrennt. Er scheint allen Vorstellungen eines idealen Partners zu entsprechen. Sie fixiert sich darauf. Jahre später erkennt sie enttäuscht, aber auch nüchtern: Die lebendige Bewegung des Lebens und seines Kairos war weitergegangen. Ihr Bild war stehengeblieben. Der Anruf des Augenblicks war weder bei ihr noch bei ihm verbunden mit der Offenheit der Bewegung. Früher oder später bricht solche Fixierung zusammen. Gewöhnlich unter großen inneren oder äußeren Schmerzen. Kaum jemand ist zunächst dankbar für solche Ent-Täuschung. Obwohl der Zusammenbruch hier gerade von der Täuschung befreit hat.

 

Nicht anders ist es, wenn jemand ein Buch schreibt und darin das Schöpferische seines Hier und Jetzt ausdrückt. Er glaubt fest, dass das Geschriebene auf Dauer und für alle oder viele gilt. Und stellt schließlich fest, dass der lebendige Zeit-Geist einfach darüber hinweg geht. Statt sich zu freuen, einen Moment in einer lebendigen Bewegung des Zeit-Geists dargestellt zu haben, ist er meist enttäuscht über den Zusammenbruch seiner Erwartungen.

 

Wer für sich den Kairos findet, und das hoffentlich immer wieder, hat also für sich „der Gottheit lebendiges Kleid“ (Faust I) berührt. Wir dürfen nur nicht glauben, dieses Lebendige des Menschseins festmachen zu können über unsere Vorstellungen. Den Kairos zu finden ist weise. Es bedeutet, einen tieferen Zugang zu unserem Leben gefunden zu haben. Es bedeutet aber auch, bereit zu sein, ihn wieder loszulassen, sich der Wandlung zu überlassen, die nicht von meinen Wünschen, sondern vom Kairos selbst ausgeht.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#32 – 8. September 2024

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Wo etwas schwer und unerträglich wird, da stehen wir auch immer schon dicht vor seiner Wandlung 

 

Rainer Maria Rilke

 

Es sind die Extreme, die uns zeigen, was den Menschen ausmacht. Mann oder Frau – was soll es Natürlicheres geben? Aber so selbstverständlich ist das nicht. Das zeigt beispielhaft die Tatsache von „Transgender“. Mehr noch, wie gegenwärtig leicht zu erkennen ist, kann eine Gesellschaft das Transgendern sogar forcieren, seine sprachliche Anwendung ihren Mitgliedern im Bildungssystem aufzwingen, es zu einer öffentlichen Norm erheben und jene in den Mittelpunkt stellen, die es sichtbar verkörpern. Man denke an den Österreicher Conchita Wurst, der einige Jahre als Frau auftrat, bis er sich wieder zu seinem Mannsein bekannte.

 

Es ist nachvollziehbar, dass sich viele darüber aufregen. Auch weil sie wahrnehmen, dass das Thema gegenwärtig künstlich gehypt wird. Unser Anliegen nun ist, das Thema auf einer anderen Ebene zu betrachten.

 

Das Geschlecht und das damit verbundene Selbstverständnis sind nicht einfach „naturgegeben“. Sein Geschlecht wird für ihn erst endgültig zu seiner Wirklichkeit, wenn er zu einem von beiden oder gar einem dritten oder gar vierten Selbstverständnis ja sagt.

 

Es ist also nicht so, dass die biologische Verfasstheit schon den Menschen ausmacht und sein Bewusstsein dies nur abbildet und vergeistigt. Sie ist vielmehr eine Wirklichkeit, die wesentlich auf einen Zusatzfaktor angewiesen ist, unsere Beziehung dazu.

 

Nicht die biologische Realität hat für den Menschen das letzte Wort, sondern seine spezifisch menschliche Dynamik. Der Kern des Menschen ist sein In-Beziehung-sein und dessen Dynamik. Diese Dynamik kann auch dazu führen, dass er sein geschlechtliches Selbstverständnis im Laufe seines Lebens wechselt, ja dass er damit sogar spielen kann.

 

Wenn Staat und Kirche in der Vergangenheit nur ein Bewusstsein von Mann oder Frau zuließen und das zur anthropologischen Verfasstheit des Menschen erklärten, dann stand dahinter ein kulturelles Wollen, das im Gewand von religiöser oder rationaler Objektivität auftrat.

 

Die Transgender-Bewegung verneint den bisherigen Weg. Sie tritt aber auf ihre Weise nun genauso dogmatisch auf wie die 2-Geschlechter-Sichtweise. Sie erhebt wiederum einen objektiven Anspruch, kämpft gegen die bisherige Perspektive und sieht nicht, dass das Gemeinsame beider Wege in einem Dritten liegt.

 

Der Mensch ist nicht dies oder das. Er ist wesentlich geschichtliche Bewegung, ein immer neues In-Beziehung-gehen mit seiner Wirklichkeit. Und so ist die eigentliche Frage: Was war das für ein schöpferischer geschichtlicher Weg, der lange Zeit nur diese Mann-Frau-Betrachtungsweise zuließ und alle anderen Regungen und Sichtweisen verdammte? Und was bedeutet es, dass dieser Weg der Verabsolutierung des Biologischen gerade zur absoluten sozialen Relativierung geführt hat? Wurde das scheinbar Natürliche manchen zu schwer, und zwar so sehr, dass sie es zum gesellschaftlichen Problem erhoben?

 

Tiefer betrachtet ist zu erkennen, dass das Frühere und Spätere zusammengehören. Wie das eine kein Hinterfragen zuließ, so nun auch das andere. Zu überwinden aber wäre dieser Gegensatz erst, wenn die Frage lautete: Was ist auf Dauer sinnvoller für das Leben des Ganzen? Was ist von diesem Ganzen hier leichter zu ertragen? Diesem Pfad folgt schließlich auch die geschichtliche Wandlung.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#31 – 1. September 2024

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Das Leben gehört dem Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefasst sein

 

Johann Wolfgang von Goethe

 

Du kannst dir immer einen bestimmten ideellen Horizont erwerben. Er enthält deine Ziele, deine Werte, deine Ideen für die Zukunft. Mehr oder weniger deutlich entwickeln wir Bilder von guten Beziehungen, Familie, Arbeit, Autorität, Ländern … Was allerdings seiner eigenen Lebenszeit-Logik folgt, ist die Entwicklung der Bedeutung dieses Horizonts.

 

In der Zeit deines Werdens (Kairos Lebensphasen 1-4, bis ca. 25 Jahre) sind solche Bilder Ausdruck deines Wegs in die Welt. Du sammelst sowohl Kraft für die Idee selbst als auch für die Abgrenzung zu anderen.

 

Dann kommt das Lebensalter des Aufbaus, wo du in und mit deinem Verständnis arbeiten willst. Es geht nicht mehr darum, welchen Platz deine Ideen in dir haben, sondern welchen sie im lebendigen Schaffen deiner Welt im Rahmen der aktuellen Gesellschaft bekommen. Du benutzt also deine Vorstellungen, um Raum und unmittelbare Anerkennung, zum Beispiel über Bezahlung, zu erhalten.

 

Erst im Lebensalter des Bewahrens, ab den fünfziger Jahren, wird allmählich deutlich, welche Bedeutung der ideelle Horizont im größeren Kontext wirklich hat. Wie sehr drängt es dich, die damit verbundenen Wunschvorstellungen auf Dauer zu verankern in dem Lebens- und Kultursystem, zu dem du gehörst.

 

Wer etwa mit 60 bereit ist, Direktor eines Gymnasiums zu werden, der schöpft seine Motivation nicht mehr aus der Funktion, die man auf diese Weise erhält, sondern ihm oder ihr ist der Stil, in dem miteinander gearbeitet und umgegangen wird, so wichtig, dass man dafür die erhöhte Verantwortung und Mehrbelastung gerne noch auf sich nimmt. Am Ende scheidet man vielleicht mit der Hoffnung, für eine gewisse Zeit gezeigt zu haben, dass und wie es auch anders geht. Und vielleicht kommt noch hinzu, das eigene Muster an einige andere Lehrkräfte bzw. Schüler weitervermittelt zu haben.

 

Wesentlich relevanter als dieser Spezialfall ist für viele sicher das, was ich hier Familiensinn nenne. Diese Sinnausrichtung des Lebens wächst in jedem von uns über verschiedene Ebenen des Werdens bis etwa 25 Jahre. Schon früh klärt sich im Unbewussten, wie jemand zum Leben überhaupt steht. Wie sehr bejahe ich menschliches Leben in seiner Eingebundenheit in ein größeres Ganzes, das es zu erhalten gilt? Danach wächst in uns mehr oder weniger stark der Glaube, dass bestimmte Werte es wert sind, dafür Arbeit und Verantwortung zu übernehmen. Daraufhin gilt es, die Kraft zu erwerben, grundlegende persönliche Konflikte auszuhalten und das Vertrauen zu entwickeln, sie lösen zu können. Schließlich verbindet sich der Familiensinn mit dem Vertrauen, die damit verbundene und daher wohl zu erwartende Arbeitslast des Tages tragen zu können.

 

Dann kommen mehr als 25 Jahre, in denen all diese Kräfte nach Umsetzung und Bewährung verlangen. Die vorhandenen Kräfte schaffen sich die Formen, die ihnen tatsächlich entsprechen.

 

Manche fühlen sich blockiert, ihrem Familiensinn eine sichtbare Gestalt zu geben. Diese Blockade kann sich tausendfach rechtfertigen. Das Gegenüber passte nicht, die Zeit fehlte, die Gesellschaft, die Eltern, das Geld, der Ort …

 

Wer tatsächlich startet, stößt bald auf die nächste Problemebene. Welchen Stellenwert hat für mich bzw. für den Partner das Kind, die Familie, die Erziehung, die Welt der Werte? Dieses Ringen wird dann noch überwölbt durch die Frage nach der Würdigung des eigenen Ich durch den anderen. Ist auch jetzt, wo vieles an Kommunikation aussichtslos erscheint, der Familiensinn stärker? Ist diese Ebene bewältigt, bleibt noch die Frage nach dem Ja zur täglichen, die körperlichen und seelischen Kräfte bis zum Äußersten fordernde Arbeit in, mit und für die Familie. In dem, was tatsächlich gedacht, gefühlt, getan wird, zeigt sich der Bedeutungsweg des Familiensinns.

 

Ab Kairos Lebensphase neun (52-58 Jahre) wandelt sich die Bedeutungsqualität des Familiensinns. Der Abstand aller Beteiligten dazu wächst. Das heißt aber nicht, dass er von allen auch bejaht wird. Die einen klammern, die anderen werden noch umklammert. Und wieder gibt es 1000 Gründe dafür, nicht loszulassen. Viele aber verwandeln sich nun doch aus Vätern und Müttern zu Großvätern und Großmüttern.

 

Die neue Ebene lässt sich aber auch bewusster betreten. Manche fangen an, ihren eigenen Weg mit dem Familiensinn zu reflektieren und zu werten. Sie sehen, wie viel davon der eigenen Herkunft, den Vorurteilen und Einflussnahmen der Gesellschaft geschuldet war, wie sehr die nächsten Generationen wiederum ihre eigenen Wege gehen (müssen). Einige wenige gelangen hier nun bis zu der inneren Freiheit, das Ganze in seiner Stückhaftigkeit, Schuldhaftigkeit, Vergeblichkeit bejahend sein zu lassen. Viele ringen mit ihrem Verhältnis zu dem, was aus ihrem Bemühen geworden ist, bis zum letzten Tag. Und einige von ihnen reichen den inneren Unfrieden noch an die nächste Generation weiter.

 

Eine beispielhafte Wegzeichnung!  Denn wie sich die Idee des Familiensinns über viele Lebensphasen hinweg in ihrer Bedeutung wandelt, so gilt das auch für alle anderen „Ideen“, die mit menschlichem Leben verbunden sind. Daher kann es sehr nützlich sein, die Kairos-Logik des Lebens selbst besser verstehen zu wollen.

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#30 – 25. August 2024

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Was immer du kannst oder wovon du träumst – fange es an. In der Kühnheit liegt Genie, Macht und Magie. Beginne es jetzt sofort.

 

Johann Wolfgang von Goethe

 

Woran erinnern wir uns, wenn wir an unsere Zeit zwischen 19 und 25 zurückdenken?

 

Bin ich zu neuen Ufern aufgebrochen, als Student (in) oder Weltreisende(r)?

Wie erlebte ich, was man „Liebe“ nennt? War Sex primär Ausdruck von Hingabe oder Eroberung oder Mittel zu dem Zweck, jemanden zu benutzen für die eigenen Bedürfnisse?

Merkte ich einen Unterschied zur Verliebtheit der früheren Jugend?

Wie wagemutig erlebte ich mich? Habe ich Neues angepackt? Bin ich allein oder in einer Gruppe aufgebrochen?

Wie ging ich mit den sozialen oder zeitgeschichtlichen Rollen um, die mir die Gesellschaft, eine Institution oder ein Partner zuweisen wollten?

Wie sahen meine Tagträume aus? Was habe ich gefürchtet?

 

Die vierte Kairos Lebensphase ist kairologisch nicht ganz einfach zu beschreiben. Spätestens jetzt drängt es jedermann, seine eigenen Wege zu gehen. Im Vordergrund steht das Aufbrechen. Wanderschaft hieß das früher (Goethe, Wilhelm Meister). Ausprobieren in großer Offenheit und Risikobereitschaft, was der Staat über das Militär immer schon zu kanalisieren versuchte. Kritische Aneignung von Erfahrungen und anerkanntem Wissen und Denken. Man wird Teil einer Vielheit von Individuen. Die bisher häufig ähnlichen Wege teilen sich. Manche werden einander fremd. Am Ende zeigen sich oft sehr unterschiedliche individuelle Lebensausrichtungen.

 

Diese vierte Lebensphase ist die Zeit, in der ich in maximaler Weise glaube, meine eigenen, letztlich täglich revidierbaren Entscheidungen treffen zu dürfen. Ideal ist jetzt eine Freiheit von vielen Zwängen. Sie will noch nicht dauerhafte Verantwortung. Diese Freiheit steht gerade im Gegensatz zum Schicksal, mein Ich steht im Gegensatz zum WIR.

 

Wo bleibt die Einheit stiftende Kraft, von der wir die anderen drei Kairos Lebensphasen gesprochen haben? In der Tat tritt diese jetzt in ihrem Gegenteil auf, als faktische Gegenwart. Ich begegne erstmals persönlich der Geschichte, der Welt, wie sie gerade da steht, auf mich wirkt, mich bestimmen will. In welchem Maße kann ich JA sagen zu dieser Vielfalt? Kann ich spüren, dass das Unbewegliche in Bewegung ist? Merke ich, dass bestimmte Fakten so sind, weil jetzt oder früher dies oder jenes bedeutungsvoll war oder ist? Als Mann, als Frau erfahre ich mich jetzt als Teil einer Geschichte des Sozialen (Hausfrau oder „moderne“ Frau?, Kampfbereitschaft oder Toleranz?), des Politischen (Parteienwahl?), des Kulturellen (Ästhetik oder Funktionalität?), der Religion (Erfahrung als erfüllte oder leere Form?), …

 

Und noch etwas zeigt die Besonderheit dieser Lebensphase. Entfaltungsdimensionen, die sich bisher im Einklang miteinander entwickelt zu haben schienen, koppeln sich voneinander ab. Das zeigt sich vor allem in der Weise, wie die Gesellschaft uns behandelt. Einerseits werde ich gegen Ende von Kairos Lebensphase 3 als erwachsen betrachtet. Je nach kultureller Ausdeutung darf man zwischen 18 und 21 Jahren als Bürger nun seine eigenen Entscheidungen treffen. Niemand darf dich mehr daran hindern zu wählen, über dein Geld zu verfügen, zu heiraten, deinen Beruf, deine Studien zu bestimmen. Und doch bist du in einem ganzheitlichen Sinne erst mit 25 Jahren ausgewachsen. Erst dann ist auch dein Skelett endgültig ausgereift. Erst dann wird dir auch zugestanden, das zu beherrschen, was die früheren Generationen an Erkenntnis und Praxis angesammelt haben. Erst dann hast du normalerweise dein Studium abgeschlossen, kannst du Meister werden. Die Kräfte von Selbstentfaltung und Lebensentfaltung gehen ihren je eigenen Zeitweg. Dies ist im Gedächtnis zu behalten. Dadurch werden sich auch spätere wesentliche Unterschiede erklären lassen.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#29 – 18. August 2024

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Die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

Seneca/deutsches Sprichwort

 

Im Alltagsgebrauch wirkt der Begriff der Hoffnung verwaschen. Man hofft auf gutes Wetter, einen besseren Job, auf Gesundheit… Die Aussage „die Hoffnung stirbt zuletzt“ geht viel tiefer, ist viel komplexer und schwerer zu erfassen. Folgende Reflexion möge dazu beitragen, den Blick auf dieses Phänomen etwas auszuweiten.

 

Hoffnung ist die dritte der wesentlichen schöpferischen Kräfte des Menschen, die die Einheit mit seiner Wirklichkeit ermöglichen.

In Kairos Lebensphase 1 speichere ich die Liebeskraft ab, die mich unmittelbar mit meiner Welt der Menschen, der Natur, der Geschichte verbindet.

In Kairos Lebensphase 2 speichere ich die Glaubenskraft ab, die all das für mich bedeutsam macht, was mir als Werte, Normen, Verhaltensweisen von Menschen Tiere begegnet. Je mehr ich mit all dem in ungebrochener Einheit bin, desto fester stehe ich später.

 

Mit zwölf Jahren beginnt die Zeit der individuellen Selbstwerdung. Es entwickelt sich bis knapp 19 Jahre meine biologische Form nach Geschlecht, Größe, Wuchs, Kraft, meine geistige Form des Wahrnehmens und Denkens, meine Art, zu fühlen und in Beziehung zu gehen.

 

Das Leben wird zum Problem. Ich erlebe Gegensätze. Mein erwachendes Ich wehrt sich gegen die Autoritäten von gestern, mein erwachendes Geschlecht trennt sich ab vom anderen Geschlecht, mein Verstand entdeckt scheinbar unlösbare Probleme der Wirklichkeit. Dieses Wachsen von Gegensätzen kann sich still oder laut, einsam oder in äußerer Gemeinschaft, reflektiert oder unreflektiert abspielen. Es ringt in jedem Fall mit unserem Urstreben nach Einheit in Harmonie, Gerechtigkeit und Wahrheit.

 

Wie sehr wird mir nun das Vertrauen vermittelt, dass sich logische, persönliche, geschlechtliche Gegensätze überwinden lassen?

 

Mein Inneres sucht im Streit mit Eltern und Geschwistern das bleibend Verbindende. Es sucht in den gedanklichen und praktischen Problemen (Schule und Lehre) die geniale und vielleicht unerwartete Lösung, die mir das Vertrauen schenkt, dass das, was aussichtslos erscheint, nicht aussichtslos sein muss. Es sucht in mehr oder weniger zarten Beziehungen zum anderen Geschlecht die Kraft der Gewissheit, die durch scheinbar hoffnungslose Zerwürfnisse und Verständnislosigkeiten tragen kann.

 

Die Hoffnung, die in dieser Zeit entsteht, hat seine eigene Qualität. Die Liebe zum Leben kann schwach werden, den Glauben kann man aufgeben oder verlieren, die Hoffnung kann sterben. Aber sie stirbt zuletzt.

 

Liebe spüre ich, Werte und Normen ordnen mein Denken und Verhalten, die Hoffnung ist weniger konkret als die anderen Kräfte. In ihr zeigt sich die Paradoxie des Lebens. Sie lässt eine unsichtbare Beziehung zwischen Gegensätzen erfahren. Jene Kraft die mein Bewusstsein braucht, wenn scheinbar so unüberbrückbare Gegensätze auftreten wie zwischen Herz und Verstand, Freiheit und Schicksal, Tradition und Eigenwille, Mann und Frau, Leben und Tod.

 

Diese Gegensätze stellen sich gewöhnlich als zeitlos dar. Doch haben sie vom Kairos her ihre spezifischen Zeiten, in denen sich die Kraft der Hoffnung aus Kairos Lebensphase 3 zu bewähren hat. Im Blick auf die eigene Ganzheit sind davon vor allem die dreißiger, fünfziger, siebziger Jahre betroffen. Im Blick auf menschliche Beziehungen oder Lebensaufgaben vor allem die vierziger und sechziger Jahre. Das genaue Wann und Wie dieses Weges ist ein eigenes Thema.

 

Eines aber könnte die heutige Inspiration bringen: wer heute lebt, bei dem mögen sich bisher viele Vorstellungen der Hoffnung nicht erfüllt haben, doch fiel er oder sie nie ganz aus der existenziellen Kraft der Hoffnung. Denn: die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#28 – 11. August 2024

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So ist das siebente Jahr eines jeden Menschen ein Stufenjahr, welches ein neues Leben, einen neuen Charakter und einen anderen Zustand herbeiführt.

 

Martin Luther

 

Bis zum Alter von zwölf Jahren speichert jeder Mensch die zwei wichtigsten Beziehungskräfte seines Lebens ab, die „weibliche“ Kraft der Liebe und die „männliche“ Kraft des Glaubens. Am Ende sollte in jedem von uns verankert sein, was für unser Leben elementar bedeutsam ist: Als Mensch überhaupt angenommen zu sein und als konkret geformter Mensch anerkannt zu sein

 

Die Dynamik der Kairos Lebensphase 2 entfaltet sich zwischen knapp sechs Jahren bis zu zwölf Jahren und ca. vier Monaten. In diesem Alter wird das rechte Vertrauen in Worte und Güter erworben, der Urglaube an richtig und falsch, die Mitte zwischen einem skrupelhaften und einem laxen Verhältnis zu Normen aller Art. Die Kraft des In-Beziehung-Seins wird über Formen, die von sich aus bedeutungsvoll sind, wie Sprache und Rituale, aufgenommen und innerlich abgespeichert.

 

Im Rückblick stellen sich im Blick auf die Selbstentfaltung manche Fragen:

  • Wie glaubwürdig waren damals meine Autoritätspersonen?
  • Was wurde mir als bedeutsam hingestellt? Verlangten die Dinge und Vorstellungen, um die es ging, eher nach religiöser Ehrfurcht oder den Glauben an bestimmte ethische Werte und Verhaltensnormen oder pure Sachlichkeit?
  • Inwiefern und unter welchen Voraussetzungen wurde ich in der Familie, in der Schule, in sonstigen Gruppen anerkannt?
  • Wie habe ich die Polarität des „Männlichen“ und des „Weiblichen“ erfahren?

 

Diese Fragen stellen sich nun zu bestimmten Zeiten in besonderem Maße. Denn menschliches Leben ist nur im chronologischen Sinne ein lineares Gebilde. Kairologisch ist es ein Netzwerk, in dem auch Vergangenheit Gegenwart und Zukunft ständig im Wandel sind. Allerdings nach einer gewissen Ordnung.

 

Wenn vom Kairos her sich eine Neubewertung gewisser früherer Phrasen aufdrängt, werde ich es merken. Es ergibt sich ganz natürlich, auch wenn ich nicht weiß, warum das so ist. Allerdings bleibt spannend und manchmal unerwartet, wie das Thema sich zeigt.

 

Die fünfte Kairos Lebensphase (25-32) weckt in mir zum Beispiel die Fragen: Erinnerst du dich an das, was dir in L2 (6-12) beigebracht wurde an Verhaltensregeln, Normen, Werten, Geboten und Verboten? Wie nun stehst DU heute dazu? Wozu kannst du dich als 30-jährige(r) bekennen? Was ist für dich unglaubwürdig geworden?

 

Vielleicht hast du inzwischen die kindliche Pflicht zum Kirchgang aufgegeben. Vielleicht verstehst du jetzt (erstmals/immer noch/wieder) Ehe als heilige Einrichtung oder als sinnlos oder als nützliches Instrument. Vielleicht fühlst du dich stark verunsichert, weil deine „alten“ Autoritäten sich als unglaubwürdig erwiesen haben.

 

Auf der Wendeltreppe des Lebens geht in Kairos Lebensphase 8 (45-51) die Verarbeitung in die nächste Runde. Du fragst dich vielleicht jetzt: Wie sehr bin ich mir meiner eigenen Kompetenz sicher? Wie sehr brauche ich für mein Selbstwertgefühl die Anerkennung von außen? Wie sehr trifft mich als Person Kritik an meiner Arbeit?

 

In Kairos Lebensphase 11 (64-71) wirst du aufgefordert, dich mit deinen Glaubensmustern noch umfassender auseinanderzusetzen. Wie bewertest du jetzt die geschichtliche Gegenwart und ihre Hintergründe? Wie sehr bist du darauf angewiesen, im aktuellen „objektiven“ Konsens zu bleiben und wie viel Freiheit spürst du, dich neuen Horizonten und auch Relativierungen deiner alten Weltanschauung zu stellen?

 

Natürlich sind das nur Blitzlichter. Der Einzelfall ist oft komplex. Kairos zeigt sich auch sehr unterschiedlich. Aber eines gilt nicht nur für die neue Auseinandersetzung mit L2: Auf dieser inneren Wendeltreppe hinauf zu immer größerer Freiheit und Ganzheit tritt jede frühe Lebensphase zu bestimmten Zeiten immer wieder auf neue Weise vor die Augen. Kairos drängt zu Wandlung und Weiterentwicklung.

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#27 4. August 2024

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Allem Späteren liegt schon das Geheimnis der ersten neun Monate zugrunde

 

Herfried Münkler

 

Die erste Lebensphase ist für die umfassende Grundausrichtung menschlichen Lebens sicher die bedeutsamste und spannendste.

 

Wie unter dem Mikroskop scheinbar klares Wasser von Lebewesen wimmelt und dort, wo das menschliche Auge nichts sieht, sich ständige Bewegungen, der Aufbau von Strukturen, Kämpfe um den eigenen Lebensraum abspielen, so müssen wir uns auch die früheste Kindheit neu erschließen.

 

Die neun Mondmonate der Schwangerschaft sind neun Entwicklungsstufen des Beziehungssystems des Menschen, das man in vielen Kulturen  als „Seele“ bezeichnet. Es ist der erste Durchgang der Entfaltung des eigenen Selbst-, der Beziehung zu anderen Menschen, der Behauptung seines Platzes in der Welt.

 

Mit der Geburt wird sichtbar, dass dieser unsichtbare Prozess, der völlig eingebettet zu sein scheint in biologische Entwicklungsschritte, auf einer höheren Zeitebene wiederholt werden soll. Das beginnt mit der Erkenntnis, dass die ersten neun Monate nach der Geburt als eine „soziale Schwangerschaft“ (Portmann) zu verstehen seien, idealerweise mit dem Stillen verbunden. Damit wiederum verbindet sich schon die Ahnung, dass sich die Neunereinheiten fortsetzen. Und tatsächlich bildet der kosmische Nukleus der Schwangerschaft einen zeitlich entsprechenden, höheren sozialen Nukleus menschlichen Lebens aus, der nach neun Schwangerschaftslängen (Kairos Lebensquanten) vollendet ist. Wir sprechen nun von der ersten Kairos Lebensphase. Sie endet mit etwa fünf Jahren und zehn Monaten.

 

Diese Zeit stellt die Ur-Verwirklichung der Beziehungskraft dar. Die bewusste Ausreifung der eigenen Persönlichkeit umfasst dann wiederum das Neunfache einer solchen Kairos Lebensphase, vollendet sich also etwa im Alter von 58 Jahren. Für Sigmund Freud ist in diesem Sinne das Kind „psychologisch der Vater des Erwachsenen“..

 

Im ersten Jahr treten die Ur-Autoritäten und ihre wahren Muster von Wort und Tat ins Leben. Dieser Schritt „wiederholt sich“ dann sichtbar in der zweiten Kairos Lebensphase (6-12). Was wir „Trotzphase“ nennen (ca. 3-4 Jahre) spielt sich erneut in Kairos Lebensphase fünf (25-32) ab, wenn der einzelne seinen eigenen „Kopf“ zu entwickeln hat. Spätestens im achten Lebensquant (fünftes Lebensjahr) erweist sich, wie tief die Kraft des Angenommenseins geht. Bis zum Alter von fünf Jahren erst ist die spezifisch menschliche Tiefschlafphase ausgebildet und damit der Grad an unbewusstem Sich-fallen-lassen-dürfen. Das Kind hat aber zugleich seine kindliche Wissenskompetenz ausgebildet, eine Sicherheit des individuellen Sprechens, Denkens und Verhaltens. Das verführt manche Eltern dazu, die sogenannte „Latenzphase“ überspringen zu wollen. Aber in diesem sechsten Jahr entsteht erst jene Ganzheit, die Voraussetzung dafür ist, das das Kind den neuen sozialen Prozessen der „Schule“ natürlich gewachsen ist.

 

Die Kairologie betrachtet das Gewebe der Beziehungskräfte. Sie achtet vor allem darauf, wie spätere Kairos Lebensphasen  aus der Quelle der ersten schöpfen, wie sie die verschiedenen Aspekte des Urvertrauens, das nun abgespeichert ist, erproben, wie sie die Bestätigung der Ur-Muster suchen, wie sie nach der Stärkung der Kraft der Lebensbejahung oder nach Korrektur und Ersatz streben. Was hier nach Komplexität klingt, ist im Alltag manchmal ganz einfach: Jeder, der es am Morgen immer wieder schafft, sich auf seine Welt einzulassen, und die Kraft findet, wenigstens aufzustehen, greift damit auf sein gespeichertes Lebensvertrauen aus der ersten Kairos Lebensphase zurück.

Karl Hofmann

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