Kairos Inspirationen 2024

Kairos Inspirationen 2024/#31 – 1. September 2024

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Das Leben gehört dem Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefasst sein

 

Johann Wolfgang von Goethe

 

Du kannst dir immer einen bestimmten ideellen Horizont erwerben. Er enthält deine Ziele, deine Werte, deine Ideen für die Zukunft. Mehr oder weniger deutlich entwickeln wir Bilder von guten Beziehungen, Familie, Arbeit, Autorität, Ländern … Was allerdings seiner eigenen Lebenszeit-Logik folgt, ist die Entwicklung der Bedeutung dieses Horizonts.

 

In der Zeit deines Werdens (Kairos Lebensphasen 1-4, bis ca. 25 Jahre) sind solche Bilder Ausdruck deines Wegs in die Welt. Du sammelst sowohl Kraft für die Idee selbst als auch für die Abgrenzung zu anderen.

 

Dann kommt das Lebensalter des Aufbaus, wo du in und mit deinem Verständnis arbeiten willst. Es geht nicht mehr darum, welchen Platz deine Ideen in dir haben, sondern welchen sie im lebendigen Schaffen deiner Welt im Rahmen der aktuellen Gesellschaft bekommen. Du benutzt also deine Vorstellungen, um Raum und unmittelbare Anerkennung, zum Beispiel über Bezahlung, zu erhalten.

 

Erst im Lebensalter des Bewahrens, ab den fünfziger Jahren, wird allmählich deutlich, welche Bedeutung der ideelle Horizont im größeren Kontext wirklich hat. Wie sehr drängt es dich, die damit verbundenen Wunschvorstellungen auf Dauer zu verankern in dem Lebens- und Kultursystem, zu dem du gehörst.

 

Wer etwa mit 60 bereit ist, Direktor eines Gymnasiums zu werden, der schöpft seine Motivation nicht mehr aus der Funktion, die man auf diese Weise erhält, sondern ihm oder ihr ist der Stil, in dem miteinander gearbeitet und umgegangen wird, so wichtig, dass man dafür die erhöhte Verantwortung und Mehrbelastung gerne noch auf sich nimmt. Am Ende scheidet man vielleicht mit der Hoffnung, für eine gewisse Zeit gezeigt zu haben, dass und wie es auch anders geht. Und vielleicht kommt noch hinzu, das eigene Muster an einige andere Lehrkräfte bzw. Schüler weitervermittelt zu haben.

 

Wesentlich relevanter als dieser Spezialfall ist für viele sicher das, was ich hier Familiensinn nenne. Diese Sinnausrichtung des Lebens wächst in jedem von uns über verschiedene Ebenen des Werdens bis etwa 25 Jahre. Schon früh klärt sich im Unbewussten, wie jemand zum Leben überhaupt steht. Wie sehr bejahe ich menschliches Leben in seiner Eingebundenheit in ein größeres Ganzes, das es zu erhalten gilt? Danach wächst in uns mehr oder weniger stark der Glaube, dass bestimmte Werte es wert sind, dafür Arbeit und Verantwortung zu übernehmen. Daraufhin gilt es, die Kraft zu erwerben, grundlegende persönliche Konflikte auszuhalten und das Vertrauen zu entwickeln, sie lösen zu können. Schließlich verbindet sich der Familiensinn mit dem Vertrauen, die damit verbundene und daher wohl zu erwartende Arbeitslast des Tages tragen zu können.

 

Dann kommen mehr als 25 Jahre, in denen all diese Kräfte nach Umsetzung und Bewährung verlangen. Die vorhandenen Kräfte schaffen sich die Formen, die ihnen tatsächlich entsprechen.

 

Manche fühlen sich blockiert, ihrem Familiensinn eine sichtbare Gestalt zu geben. Diese Blockade kann sich tausendfach rechtfertigen. Das Gegenüber passte nicht, die Zeit fehlte, die Gesellschaft, die Eltern, das Geld, der Ort …

 

Wer tatsächlich startet, stößt bald auf die nächste Problemebene. Welchen Stellenwert hat für mich bzw. für den Partner das Kind, die Familie, die Erziehung, die Welt der Werte? Dieses Ringen wird dann noch überwölbt durch die Frage nach der Würdigung des eigenen Ich durch den anderen. Ist auch jetzt, wo vieles an Kommunikation aussichtslos erscheint, der Familiensinn stärker? Ist diese Ebene bewältigt, bleibt noch die Frage nach dem Ja zur täglichen, die körperlichen und seelischen Kräfte bis zum Äußersten fordernde Arbeit in, mit und für die Familie. In dem, was tatsächlich gedacht, gefühlt, getan wird, zeigt sich der Bedeutungsweg des Familiensinns.

 

Ab Kairos Lebensphase neun (52-58 Jahre) wandelt sich die Bedeutungsqualität des Familiensinns. Der Abstand aller Beteiligten dazu wächst. Das heißt aber nicht, dass er von allen auch bejaht wird. Die einen klammern, die anderen werden noch umklammert. Und wieder gibt es 1000 Gründe dafür, nicht loszulassen. Viele aber verwandeln sich nun doch aus Vätern und Müttern zu Großvätern und Großmüttern.

 

Die neue Ebene lässt sich aber auch bewusster betreten. Manche fangen an, ihren eigenen Weg mit dem Familiensinn zu reflektieren und zu werten. Sie sehen, wie viel davon der eigenen Herkunft, den Vorurteilen und Einflussnahmen der Gesellschaft geschuldet war, wie sehr die nächsten Generationen wiederum ihre eigenen Wege gehen (müssen). Einige wenige gelangen hier nun bis zu der inneren Freiheit, das Ganze in seiner Stückhaftigkeit, Schuldhaftigkeit, Vergeblichkeit bejahend sein zu lassen. Viele ringen mit ihrem Verhältnis zu dem, was aus ihrem Bemühen geworden ist, bis zum letzten Tag. Und einige von ihnen reichen den inneren Unfrieden noch an die nächste Generation weiter.

 

Eine beispielhafte Wegzeichnung!  Denn wie sich die Idee des Familiensinns über viele Lebensphasen hinweg in ihrer Bedeutung wandelt, so gilt das auch für alle anderen „Ideen“, die mit menschlichem Leben verbunden sind. Daher kann es sehr nützlich sein, die Kairos-Logik des Lebens selbst besser verstehen zu wollen.

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#30 – 25. August 2024

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Was immer du kannst oder wovon du träumst – fange es an. In der Kühnheit liegt Genie, Macht und Magie. Beginne es jetzt sofort.

 

Johann Wolfgang von Goethe

 

Woran erinnern wir uns, wenn wir an unsere Zeit zwischen 19 und 25 zurückdenken?

 

Bin ich zu neuen Ufern aufgebrochen, als Student (in) oder Weltreisende(r)?

Wie erlebte ich, was man „Liebe“ nennt? War Sex primär Ausdruck von Hingabe oder Eroberung oder Mittel zu dem Zweck, jemanden zu benutzen für die eigenen Bedürfnisse?

Merkte ich einen Unterschied zur Verliebtheit der früheren Jugend?

Wie wagemutig erlebte ich mich? Habe ich Neues angepackt? Bin ich allein oder in einer Gruppe aufgebrochen?

Wie ging ich mit den sozialen oder zeitgeschichtlichen Rollen um, die mir die Gesellschaft, eine Institution oder ein Partner zuweisen wollten?

Wie sahen meine Tagträume aus? Was habe ich gefürchtet?

 

Die vierte Kairos Lebensphase ist kairologisch nicht ganz einfach zu beschreiben. Spätestens jetzt drängt es jedermann, seine eigenen Wege zu gehen. Im Vordergrund steht das Aufbrechen. Wanderschaft hieß das früher (Goethe, Wilhelm Meister). Ausprobieren in großer Offenheit und Risikobereitschaft, was der Staat über das Militär immer schon zu kanalisieren versuchte. Kritische Aneignung von Erfahrungen und anerkanntem Wissen und Denken. Man wird Teil einer Vielheit von Individuen. Die bisher häufig ähnlichen Wege teilen sich. Manche werden einander fremd. Am Ende zeigen sich oft sehr unterschiedliche individuelle Lebensausrichtungen.

 

Diese vierte Lebensphase ist die Zeit, in der ich in maximaler Weise glaube, meine eigenen, letztlich täglich revidierbaren Entscheidungen treffen zu dürfen. Ideal ist jetzt eine Freiheit von vielen Zwängen. Sie will noch nicht dauerhafte Verantwortung. Diese Freiheit steht gerade im Gegensatz zum Schicksal, mein Ich steht im Gegensatz zum WIR.

 

Wo bleibt die Einheit stiftende Kraft, von der wir die anderen drei Kairos Lebensphasen gesprochen haben? In der Tat tritt diese jetzt in ihrem Gegenteil auf, als faktische Gegenwart. Ich begegne erstmals persönlich der Geschichte, der Welt, wie sie gerade da steht, auf mich wirkt, mich bestimmen will. In welchem Maße kann ich JA sagen zu dieser Vielfalt? Kann ich spüren, dass das Unbewegliche in Bewegung ist? Merke ich, dass bestimmte Fakten so sind, weil jetzt oder früher dies oder jenes bedeutungsvoll war oder ist? Als Mann, als Frau erfahre ich mich jetzt als Teil einer Geschichte des Sozialen (Hausfrau oder „moderne“ Frau?, Kampfbereitschaft oder Toleranz?), des Politischen (Parteienwahl?), des Kulturellen (Ästhetik oder Funktionalität?), der Religion (Erfahrung als erfüllte oder leere Form?), …

 

Und noch etwas zeigt die Besonderheit dieser Lebensphase. Entfaltungsdimensionen, die sich bisher im Einklang miteinander entwickelt zu haben schienen, koppeln sich voneinander ab. Das zeigt sich vor allem in der Weise, wie die Gesellschaft uns behandelt. Einerseits werde ich gegen Ende von Kairos Lebensphase 3 als erwachsen betrachtet. Je nach kultureller Ausdeutung darf man zwischen 18 und 21 Jahren als Bürger nun seine eigenen Entscheidungen treffen. Niemand darf dich mehr daran hindern zu wählen, über dein Geld zu verfügen, zu heiraten, deinen Beruf, deine Studien zu bestimmen. Und doch bist du in einem ganzheitlichen Sinne erst mit 25 Jahren ausgewachsen. Erst dann ist auch dein Skelett endgültig ausgereift. Erst dann wird dir auch zugestanden, das zu beherrschen, was die früheren Generationen an Erkenntnis und Praxis angesammelt haben. Erst dann hast du normalerweise dein Studium abgeschlossen, kannst du Meister werden. Die Kräfte von Selbstentfaltung und Lebensentfaltung gehen ihren je eigenen Zeitweg. Dies ist im Gedächtnis zu behalten. Dadurch werden sich auch spätere wesentliche Unterschiede erklären lassen.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#29 – 18. August 2024

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Die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

Seneca/deutsches Sprichwort

 

Im Alltagsgebrauch wirkt der Begriff der Hoffnung verwaschen. Man hofft auf gutes Wetter, einen besseren Job, auf Gesundheit… Die Aussage „die Hoffnung stirbt zuletzt“ geht viel tiefer, ist viel komplexer und schwerer zu erfassen. Folgende Reflexion möge dazu beitragen, den Blick auf dieses Phänomen etwas auszuweiten.

 

Hoffnung ist die dritte der wesentlichen schöpferischen Kräfte des Menschen, die die Einheit mit seiner Wirklichkeit ermöglichen.

In Kairos Lebensphase 1 speichere ich die Liebeskraft ab, die mich unmittelbar mit meiner Welt der Menschen, der Natur, der Geschichte verbindet.

In Kairos Lebensphase 2 speichere ich die Glaubenskraft ab, die all das für mich bedeutsam macht, was mir als Werte, Normen, Verhaltensweisen von Menschen Tiere begegnet. Je mehr ich mit all dem in ungebrochener Einheit bin, desto fester stehe ich später.

 

Mit zwölf Jahren beginnt die Zeit der individuellen Selbstwerdung. Es entwickelt sich bis knapp 19 Jahre meine biologische Form nach Geschlecht, Größe, Wuchs, Kraft, meine geistige Form des Wahrnehmens und Denkens, meine Art, zu fühlen und in Beziehung zu gehen.

 

Das Leben wird zum Problem. Ich erlebe Gegensätze. Mein erwachendes Ich wehrt sich gegen die Autoritäten von gestern, mein erwachendes Geschlecht trennt sich ab vom anderen Geschlecht, mein Verstand entdeckt scheinbar unlösbare Probleme der Wirklichkeit. Dieses Wachsen von Gegensätzen kann sich still oder laut, einsam oder in äußerer Gemeinschaft, reflektiert oder unreflektiert abspielen. Es ringt in jedem Fall mit unserem Urstreben nach Einheit in Harmonie, Gerechtigkeit und Wahrheit.

 

Wie sehr wird mir nun das Vertrauen vermittelt, dass sich logische, persönliche, geschlechtliche Gegensätze überwinden lassen?

 

Mein Inneres sucht im Streit mit Eltern und Geschwistern das bleibend Verbindende. Es sucht in den gedanklichen und praktischen Problemen (Schule und Lehre) die geniale und vielleicht unerwartete Lösung, die mir das Vertrauen schenkt, dass das, was aussichtslos erscheint, nicht aussichtslos sein muss. Es sucht in mehr oder weniger zarten Beziehungen zum anderen Geschlecht die Kraft der Gewissheit, die durch scheinbar hoffnungslose Zerwürfnisse und Verständnislosigkeiten tragen kann.

 

Die Hoffnung, die in dieser Zeit entsteht, hat seine eigene Qualität. Die Liebe zum Leben kann schwach werden, den Glauben kann man aufgeben oder verlieren, die Hoffnung kann sterben. Aber sie stirbt zuletzt.

 

Liebe spüre ich, Werte und Normen ordnen mein Denken und Verhalten, die Hoffnung ist weniger konkret als die anderen Kräfte. In ihr zeigt sich die Paradoxie des Lebens. Sie lässt eine unsichtbare Beziehung zwischen Gegensätzen erfahren. Jene Kraft die mein Bewusstsein braucht, wenn scheinbar so unüberbrückbare Gegensätze auftreten wie zwischen Herz und Verstand, Freiheit und Schicksal, Tradition und Eigenwille, Mann und Frau, Leben und Tod.

 

Diese Gegensätze stellen sich gewöhnlich als zeitlos dar. Doch haben sie vom Kairos her ihre spezifischen Zeiten, in denen sich die Kraft der Hoffnung aus Kairos Lebensphase 3 zu bewähren hat. Im Blick auf die eigene Ganzheit sind davon vor allem die dreißiger, fünfziger, siebziger Jahre betroffen. Im Blick auf menschliche Beziehungen oder Lebensaufgaben vor allem die vierziger und sechziger Jahre. Das genaue Wann und Wie dieses Weges ist ein eigenes Thema.

 

Eines aber könnte die heutige Inspiration bringen: wer heute lebt, bei dem mögen sich bisher viele Vorstellungen der Hoffnung nicht erfüllt haben, doch fiel er oder sie nie ganz aus der existenziellen Kraft der Hoffnung. Denn: die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#28 – 11. August 2024

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So ist das siebente Jahr eines jeden Menschen ein Stufenjahr, welches ein neues Leben, einen neuen Charakter und einen anderen Zustand herbeiführt.

 

Martin Luther

 

Bis zum Alter von zwölf Jahren speichert jeder Mensch die zwei wichtigsten Beziehungskräfte seines Lebens ab, die „weibliche“ Kraft der Liebe und die „männliche“ Kraft des Glaubens. Am Ende sollte in jedem von uns verankert sein, was für unser Leben elementar bedeutsam ist: Als Mensch überhaupt angenommen zu sein und als konkret geformter Mensch anerkannt zu sein

 

Die Dynamik der Kairos Lebensphase 2 entfaltet sich zwischen knapp sechs Jahren bis zu zwölf Jahren und ca. vier Monaten. In diesem Alter wird das rechte Vertrauen in Worte und Güter erworben, der Urglaube an richtig und falsch, die Mitte zwischen einem skrupelhaften und einem laxen Verhältnis zu Normen aller Art. Die Kraft des In-Beziehung-Seins wird über Formen, die von sich aus bedeutungsvoll sind, wie Sprache und Rituale, aufgenommen und innerlich abgespeichert.

 

Im Rückblick stellen sich im Blick auf die Selbstentfaltung manche Fragen:

  • Wie glaubwürdig waren damals meine Autoritätspersonen?
  • Was wurde mir als bedeutsam hingestellt? Verlangten die Dinge und Vorstellungen, um die es ging, eher nach religiöser Ehrfurcht oder den Glauben an bestimmte ethische Werte und Verhaltensnormen oder pure Sachlichkeit?
  • Inwiefern und unter welchen Voraussetzungen wurde ich in der Familie, in der Schule, in sonstigen Gruppen anerkannt?
  • Wie habe ich die Polarität des „Männlichen“ und des „Weiblichen“ erfahren?

 

Diese Fragen stellen sich nun zu bestimmten Zeiten in besonderem Maße. Denn menschliches Leben ist nur im chronologischen Sinne ein lineares Gebilde. Kairologisch ist es ein Netzwerk, in dem auch Vergangenheit Gegenwart und Zukunft ständig im Wandel sind. Allerdings nach einer gewissen Ordnung.

 

Wenn vom Kairos her sich eine Neubewertung gewisser früherer Phrasen aufdrängt, werde ich es merken. Es ergibt sich ganz natürlich, auch wenn ich nicht weiß, warum das so ist. Allerdings bleibt spannend und manchmal unerwartet, wie das Thema sich zeigt.

 

Die fünfte Kairos Lebensphase (25-32) weckt in mir zum Beispiel die Fragen: Erinnerst du dich an das, was dir in L2 (6-12) beigebracht wurde an Verhaltensregeln, Normen, Werten, Geboten und Verboten? Wie nun stehst DU heute dazu? Wozu kannst du dich als 30-jährige(r) bekennen? Was ist für dich unglaubwürdig geworden?

 

Vielleicht hast du inzwischen die kindliche Pflicht zum Kirchgang aufgegeben. Vielleicht verstehst du jetzt (erstmals/immer noch/wieder) Ehe als heilige Einrichtung oder als sinnlos oder als nützliches Instrument. Vielleicht fühlst du dich stark verunsichert, weil deine „alten“ Autoritäten sich als unglaubwürdig erwiesen haben.

 

Auf der Wendeltreppe des Lebens geht in Kairos Lebensphase 8 (45-51) die Verarbeitung in die nächste Runde. Du fragst dich vielleicht jetzt: Wie sehr bin ich mir meiner eigenen Kompetenz sicher? Wie sehr brauche ich für mein Selbstwertgefühl die Anerkennung von außen? Wie sehr trifft mich als Person Kritik an meiner Arbeit?

 

In Kairos Lebensphase 11 (64-71) wirst du aufgefordert, dich mit deinen Glaubensmustern noch umfassender auseinanderzusetzen. Wie bewertest du jetzt die geschichtliche Gegenwart und ihre Hintergründe? Wie sehr bist du darauf angewiesen, im aktuellen „objektiven“ Konsens zu bleiben und wie viel Freiheit spürst du, dich neuen Horizonten und auch Relativierungen deiner alten Weltanschauung zu stellen?

 

Natürlich sind das nur Blitzlichter. Der Einzelfall ist oft komplex. Kairos zeigt sich auch sehr unterschiedlich. Aber eines gilt nicht nur für die neue Auseinandersetzung mit L2: Auf dieser inneren Wendeltreppe hinauf zu immer größerer Freiheit und Ganzheit tritt jede frühe Lebensphase zu bestimmten Zeiten immer wieder auf neue Weise vor die Augen. Kairos drängt zu Wandlung und Weiterentwicklung.

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#27 4. August 2024

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Allem Späteren liegt schon das Geheimnis der ersten neun Monate zugrunde

 

Herfried Münkler

 

Die erste Lebensphase ist für die umfassende Grundausrichtung menschlichen Lebens sicher die bedeutsamste und spannendste.

 

Wie unter dem Mikroskop scheinbar klares Wasser von Lebewesen wimmelt und dort, wo das menschliche Auge nichts sieht, sich ständige Bewegungen, der Aufbau von Strukturen, Kämpfe um den eigenen Lebensraum abspielen, so müssen wir uns auch die früheste Kindheit neu erschließen.

 

Die neun Mondmonate der Schwangerschaft sind neun Entwicklungsstufen des Beziehungssystems des Menschen, das man in vielen Kulturen  als „Seele“ bezeichnet. Es ist der erste Durchgang der Entfaltung des eigenen Selbst-, der Beziehung zu anderen Menschen, der Behauptung seines Platzes in der Welt.

 

Mit der Geburt wird sichtbar, dass dieser unsichtbare Prozess, der völlig eingebettet zu sein scheint in biologische Entwicklungsschritte, auf einer höheren Zeitebene wiederholt werden soll. Das beginnt mit der Erkenntnis, dass die ersten neun Monate nach der Geburt als eine „soziale Schwangerschaft“ (Portmann) zu verstehen seien, idealerweise mit dem Stillen verbunden. Damit wiederum verbindet sich schon die Ahnung, dass sich die Neunereinheiten fortsetzen. Und tatsächlich bildet der kosmische Nukleus der Schwangerschaft einen zeitlich entsprechenden, höheren sozialen Nukleus menschlichen Lebens aus, der nach neun Schwangerschaftslängen (Kairos Lebensquanten) vollendet ist. Wir sprechen nun von der ersten Kairos Lebensphase. Sie endet mit etwa fünf Jahren und zehn Monaten.

 

Diese Zeit stellt die Ur-Verwirklichung der Beziehungskraft dar. Die bewusste Ausreifung der eigenen Persönlichkeit umfasst dann wiederum das Neunfache einer solchen Kairos Lebensphase, vollendet sich also etwa im Alter von 58 Jahren. Für Sigmund Freud ist in diesem Sinne das Kind „psychologisch der Vater des Erwachsenen“..

 

Im ersten Jahr treten die Ur-Autoritäten und ihre wahren Muster von Wort und Tat ins Leben. Dieser Schritt „wiederholt sich“ dann sichtbar in der zweiten Kairos Lebensphase (6-12). Was wir „Trotzphase“ nennen (ca. 3-4 Jahre) spielt sich erneut in Kairos Lebensphase fünf (25-32) ab, wenn der einzelne seinen eigenen „Kopf“ zu entwickeln hat. Spätestens im achten Lebensquant (fünftes Lebensjahr) erweist sich, wie tief die Kraft des Angenommenseins geht. Bis zum Alter von fünf Jahren erst ist die spezifisch menschliche Tiefschlafphase ausgebildet und damit der Grad an unbewusstem Sich-fallen-lassen-dürfen. Das Kind hat aber zugleich seine kindliche Wissenskompetenz ausgebildet, eine Sicherheit des individuellen Sprechens, Denkens und Verhaltens. Das verführt manche Eltern dazu, die sogenannte „Latenzphase“ überspringen zu wollen. Aber in diesem sechsten Jahr entsteht erst jene Ganzheit, die Voraussetzung dafür ist, das das Kind den neuen sozialen Prozessen der „Schule“ natürlich gewachsen ist.

 

Die Kairologie betrachtet das Gewebe der Beziehungskräfte. Sie achtet vor allem darauf, wie spätere Kairos Lebensphasen  aus der Quelle der ersten schöpfen, wie sie die verschiedenen Aspekte des Urvertrauens, das nun abgespeichert ist, erproben, wie sie die Bestätigung der Ur-Muster suchen, wie sie nach der Stärkung der Kraft der Lebensbejahung oder nach Korrektur und Ersatz streben. Was hier nach Komplexität klingt, ist im Alltag manchmal ganz einfach: Jeder, der es am Morgen immer wieder schafft, sich auf seine Welt einzulassen, und die Kraft findet, wenigstens aufzustehen, greift damit auf sein gespeichertes Lebensvertrauen aus der ersten Kairos Lebensphase zurück.

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#26

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Menschsein ist nicht ohne Wandlung.

 

Rainer Maria Rilke

 

Für Rilke, den großen Dichter schöpferischer Wandlung, ist Wandlung wesentlich mit dem Menschsein verbunden. Es ist nicht etwas, was hinzukommt oder wünschenswert wäre. Was wir hier nur ergänzen wollen, ist: Menschliche Wandlung hat ihre spezifische Zeit.

 

Glückliche Wenden oder nachtvolle Katastrophen müssen noch keine Wandlung bedeuten. Dies ist erst der Fall, wenn sie von jener Energie getragen sind, die den Menschen zu immer größerer Ganzheit führen will. Eine Ebene dieser Energieeinheiten stellen die Kairos Lebensphasen dar.

 

Den von ihnen gestellten Aufgaben, Kräften, Zeiten folgt unsere Wahrnehmung. Im Idealfall. Bei Kindern ist diese Wandlung der Art und Weise, wie wir in Beziehung zu unserer Wirklichkeit gehen, noch gut zu beobachten. Der Grund ist, dass die biologische und geistige Entwicklung in Kindheit und Jugend noch eng gekoppelt ist mit diesen menschlichen Beziehungskräften.

 

Daher ist es kein Zufall, dass sich mit etwa drei Jahren die Art der Kinderbetreuung ändert („Kindergarten“), man weltweit mit etwa sechs Jahren mit „Schule“ beginnt, etwa mit zwölf Jahren sowohl die Pubertät einsetzt als auch die Art der Wahrnehmung („Sekundarschule“) sich ändert. Jeder weiß auch, dass sich um das Alter von 20 Jahren wiederum Selbstverständnis und Weltsicht neu auszurichten beginnen („Universität“).

 

Lassen sich nun Kairos Lebensphasen der Zeit nach genau bestimmen? Ja, sagen die Anthroposophen, und legen ihr System von 7-Jahres Einheiten vor. Es beginnt mit der Geburt und ist geistig abgeleitet von der heiligen Zahl 7, wie sie zum Beispiel die Pythagoräer der Antike hochgehalten haben. Nein, sagen viele Vertreter der Humanwissenschaften. Alle menschlichen Zeiteinheiten formen sich aus der Verbindung von Anlage und Umwelt, innerer Freiheit und äußerem Zwang. Unsere Rhythmen und Zyklen sind elastisch und alle Einteilung in Phasen kann sich nur auf Durchschnittswerte beziehen.

 

Die Kairologie geht über beide Positionen hinaus. Für sie ist der Mensch vom ersten Moment an ein ganzheitliches Wandlungssystem. Seine Lebensphasen sind mehr als das Produkt von Natur und Umwelt. Seine Zeiteinheiten fallen aber auch nicht vom Himmel. Einheit stiftender Geist und sich differenzierende Zeit-Evolution sind in ihm auf einer neuen Ebene vereint. Was immer mein Körper tut, mein Geist wahrnimmt, mein Herz fühlt, mein Wille anstrebt – es bildet auf einer Beziehungsebene ein einmaliges Gewebe. Um die Wandlung dieses Gewebes geht es. Was äußerlich bei den einen sehr nach Festigkeit oder Kontinuität ausschaut, bei den anderen sich als Chaos oder Sprunghaftigkeit zeigt, folgt innerlich einer zeitlichen Lebensordnung.

 

Der Philosoph Romano Guardini hat das schon vor 100 Jahren sehr schön beschrieben:

„Die Abfolge der Phasen geht ja nicht so vor sich, dass die eine mit glattem Schnitt zu Ende ginge, während die nächste als Ganzes neu ansetzte. Diese bereitet sich vielmehr schon früher vor, als sie zur Herrschaft gelangt, ebenso wie die zu Ende gehende länger in Gestalt und Wirkung bleibt, als ihre Maßgeblichkeit dauert. Anderseits geht der Übergang aber auch nicht so vor sich, dass die erste Lebensphase sich allmählich in die folgende verwandelte, sondern jede der beiden behauptet sich als Gestalt. (Romano Guardini, Die Lebensalter, 61)

 

Wie diese Wandlung sich konkret von Kairos Lebensphase zu Kairos Lebensphase vollzieht, werden wir in folgenden Inspirationen zu skizzieren versuchen.

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#25

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Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam.

 

 

Apostelgeschichte 2,44

 

 

Es lohnt sich, den tieferen Sinn der neuen Smart Cities zu verstehen. Denn ihre Form ist zwar neu, die zugrunde liegende Sinnidee aber nicht.

 

Eine solche Smart City entsteht zum Beispiel gerade in München-Freiham. Sie wird am Ende 25.000 Einwohner umfassen. Das englische Oxford ist schon weiter. Dort ist bereits die ganze Stadt in sechs solche Smart Cities eingeteilt. China ist natürlich noch weiter. Insgesamt sollen auf der Welt momentan über 1000 solche neuen 15-Minuten-Städte oder Stadtviertel entstehen.

 

Das Konzept ist weltweit gleich. Eine solche Stadt wird nach Möglichkeit in einem Zug aus dem Boden gestampft. Im Idealfall gehört in diesen Städten niemandem etwas. Die Verwaltung betreut die Wohnungen. Es ist alles so geplant, dass alle zu allem, was sie brauchen, direkten Zugang haben. Du bist befreit von der Last, ein teures Auto zu unterhalten, Parkplätze zu suchen, zeitaufwendig deine Wünsche erfüllen zu müssen. Du kannst alles in wenigen Minuten zu Fuß erreichen. Die eine Schule, die eine Sportanlage, der eine Freizeitpark, das eine vielfältige Einkaufszentrum, der eine Zugang (über U- oder S-Bahn) nach „draußen“.

 

Es ist eine Welt, in der beispielhaft schon die vollkommene Einheit von Freiheit und Gebundenheit gelebt wird. In diesem Modell ist das individuelle Habenwollen überwunden. Hier ist auch der Weg zu einem geldfreien Leben nicht mehr weit. Wo für alle alles gegeben ist, was sie brauchen (sollen), lässt sich das auch als Gesamtpaket anbieten. Es muss ja nicht überall so kontrolliert zugehen wie im chinesischen social credit system.

 

Das Spannende an diesen neuen Städten ist, dass sie gut darstellbar sind als moderne Klostereinheiten. Es sind Zeit-Städte. Der Sinn liegt im Zeit-Gewinn. Der Himmel der Zeitfreiheit, der reinen Gegenwart ist nahe. Es ist eine neue stabilitas loci. Es ist eine abstrakte Gemeinschaft, in der der Schwerpunkt auf der Kommunikation auf der virtuellen Welt liegt.

 

Im 13. Jahrhundert wurde diese smarte Welt geistlich und die dazugehörige Intelligenz spirituell wahrgenommen. Auch damals drängten viele danach, in eine solche Welt aufgenommen zu werden.

 

Heute stehst du über Computer und Smartphone mit der Welt und der Zeit draußen in Beziehung. Deine Wohnung ist deine Zelle, von der du immer wieder in die persönlich-kollektive Informationswelt eintrittst. In den Wohnblöcken geht es sehr still und sachlich-distanziert zu. Nach der morgendlichen Ausrichtung über Andacht und Gesang (Radio, Fernsehen…) geht es zur Arbeit. Manche sind gezwungen, einer Arbeit außerhalb der unsichtbaren Klostermauern nachzugehen. In Oxford etwa darf jeder ohne weitere Erlaubnis seine 15-Minuten-Stadt für 100 Tage Jahr verlassen. Andere machen „Home Office“ und arbeiten direkt über Zahlen, Texte, Gespräche auf der virtuellen Ebene, ohne sich äußerlich bewegen zu müssen. Über sein Handy vergewissert sich ohnehin jeder so oft wie möglich seiner übernatürlichen Informationswelt. Vor allem die Abende und die Nächte gehören dieser Licht-und Klangwelt.

 

Auf eine solche neue Welt steuern wir immer bewusster zu. Mögen die Älteren noch ihrer individuellen Freiheit von gestern nachtrauern. Sie verstehen eben nicht, welche ganzheitliche, aller Schwere des äußeren Lebens enthobene Welt sich hier bietet. Wie schön es doch ist, sich nicht auf die Welt zubewegen zu müssen, sondern zu erleben, dass die Welt sich auf mich zubewegt. Dafür verzichtet man gern auf den Stress, alles selbst entscheiden zu sollen.

 

Dass wir all das schon einmal hatten, nur in anderer Bewusstseins- und Lebensform, muss ja nicht jeder reflektieren. Und dass es ein Versuch ist, das Ideal der ersten Christen in einer erwarteten Weise aufleben zu lassen, wird vermutlich auch nur wenigen in den Sinn kommen.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#24

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Die Natur ist die beste Führerin des Lebens.

 

Cicero

 

Wer sich mit seinem Kairos vertraut macht, und dazu gehört auch der weltgeschichtliche Kairos, der wird nie die Zuversicht verlieren. Vertraut machen aber heißt, sich so sehr darauf einlassen, sich so sehr um Klarheit zu bemühen, dass man seinem Kairos auch tatsächlich vertraut.

 

Das ist freilich nicht einfach. Wie soll ich die Stimme meines Kairos von anderen Stimmen unterscheiden? Wie soll ich wissen, was vom Ganzen her für mich gut ist? Wie finde ich überhaupt zu dem Navi meines Lebens? Wie gehe ich damit um?

 

vielleicht steht am Anfang, dass du ein tiefes Unwohlsein empfindest. Es kann sich darin zeigen, dass du dich leicht ärgerst, dass du alles und alle kritisierst, nachts keine Ruhe findest, Gutes meinst zu tun und doch unzufrieden bleibst, im Erfolg nicht froh wirst, im Misserfolg schon deine Welt untergehen siehst.

 

Es kann auch sein, dass immer wieder Unglücke, schlimme Erfahrungen aus der Vergangenheit auftauchen und dich depressiv werden lassen.

 

Der fehlende aktuelle Zugang zu deinem Kairos kann sich auch darin zeigen, dass du zwanghaft alles positiv denken musst. Auch das ist eine Flucht, die Flucht nach vorn, der Sprung in eine heile Welt. So einfach aber kommt man seiner kairosgemäßen inneren Wandlung nicht aus.

 

Was also tun? Ich glaube, am Anfang gilt es, sich bewusst zu machen, dass es für jeden von uns ein menschliches Navi gibt, das Kairos heißt. Es gehört zu unserer Natur. Und es ist, wie schon Cicero schreibt, die beste Führerin des Lebens.

 

Jedes moderne Auto hat ein Navi. Es führt und lässt auch schwierige Fahrsituationen entspannt bewältigen. Aber man muss auch wissen, wie es funktioniert. Und man muss sich darauf einlassen. Auch beim Kairos ist es manchmal notwendig bzw. nützlich, sich zeigen zu lassen, wie dieses Lebensführungssystem funktioniert, wie es schon bisher gearbeitet hat. Kein Navi hebt auf, dass du den Weg, wie früher schon, fahren musst. Es verhindert auch keine Bergrutsche, Überschwemmungen und Stauzeiten. Aber es steuert dich optimal hindurch, wenn du seinen Anweisungen folgst.

 

Genau das tut auch dein Kairos. Nur dass die Freiheit, die er dich fühlen lässt, und die Zuversicht, mit der du durch dein Leben fahren darfst, viel tiefer und wesentlicher ist als das, was die Technik dir ermöglicht. Lernst du, auf deine inneren Veränderungen zu achten, sie ernst zu nehmen, sie zum Maßstab deines Handelns zu nehmen, wirst du dies bald ffreudig merken.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#23

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Je stärker Deutschland dient, umso größer ist seine Rolle.

 

Robert Habeck 2022

 

Robert Habeck ist (immer noch) deutscher Wirtschaftsminister. Er gehört zu den Grünen. Viele seiner Entscheidungen sind umstritten. Vielleicht fällt es von daher manchem nicht leicht, sich einer zentralen Aussage von ihm aus höherer Warte zu nähern. Denn dann ist leicht festzustellen, dass seine Aussage ein uraltes spezifisch deutsches Phänomen trifft.

 

Was Deutschland immer schon geistig anzog, waren große Ideen. Wir sind im Kern kein tief verankerter Nationalstaat. Um das zu verstehen, ist es hilfreich, ein wenig die deutsche Geschichte zu rekapitulieren.

 

Deutschland führte das christliche Abendland  an, solange es dem Kaisertum und Papsttum verpflichtet war. Das waren große Ideen, denen die realen Repräsentanten mehr oder weniger genügten.

 

Die Zeit, als die Dynastien immer mehr zu Nationalstaaten wurden, fand Deutschland zersplittert in 350 rechtliche Einheiten, über denen der Kaiser, jahrhundertelang ein Habsburger stand, nicht aus Deutschland, sondern aus Wien kommend.. Seine Verwaltung arbeitete in Regensburg.

 

Zum Nationalstaat formte erst Bismarck die deutschen Stämme, nachdem Napoleon die Grundlagen gelegt hatte. Bismarck musste den preußischen Hohenzollernkönig genauso dazu zwingen wie den Bayernkönig.

 

Auch im Nationalsozialismus kam das „deutsche Wesen“ zurück, das sich nicht damit begnügen konnte, Deutschland neu zu organisieren. Bezeichnenderweise vertraute man sich wieder jemandem an, der gar nicht aus Deutschland stammte. Auch dieses neue Deutschland hatte von Anfang an einen Weltanspruch. Man sang nicht umsonst: Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt. Man glaubte tatsächlich, dass die Welt am deutschen Wesen genesen könne. Man sah, dass die meisten modernen Spitzenprodukte, vom Auto, über Flugzeuge, Raketen, Elektrizität, Computer, Atomphysik oder Medikamente ihren Ursprung in Deutschland hatten. Man war stolz auf das „Made in Germany“.

 

Dienst an etwas Größerem: Das wurde von den führenden Deutschen immer schon als besondere Berufung empfunden. Shakespeare schuf zutiefst englische Werke, Goethe hatte die ganze Menschheit und sein „Faust“ die ganze Hochkultur des Abendlandes im Blick.

 

Während also andere den Idealismus gewöhnlich nur dazu benutzen, um ihre reale Macht auszuweiten, findet sich in Deutschland der ernsthafte Glaube, für die ganze Welt, wenn auch nur stellvertretend und symbolisch, etwas leisten zu sollen und so erst seine maximale Sinnerfüllung zu erlangen.

 

Natürlich sind wir, von außen betrachtet, schon lange Vasallen der USA oder, noch präziser, der einen Neuen Weltordnungs-Agenda. Das aber wird nicht bloß als ein Zwangsverhältnis erlebt, sondern hier gilt durchaus der alte Spruch: Halb zog er sie, halb fiel sie hin.

 

Sinn heißt hier für eine führende Schicht, für etwas Größeres da zu sein als Deutschland oder selbst Europa. Mit dem Argument, die Welt zu retten, konnte Kohl der europäischen Gemeinschaft Vorrang vor Deutschland geben. Merkel konnte mit dem gleichen Argument 2011 den Unfall von Fukushima für den Atomausstieg nutzen, 2015 die außerordentliche Menge an Migranten freundlich empfangen lassen, die Deutschen auf Umweltschutz einschwören. Ob nun der weltweite Energieverbrauch zu senken war (1974), der weltweite Terrorismus zu bekämpfen war, der Wald, das Klima, die Weltgesundheit, die weltweite Demokratie zu retten waren und sind, immer wirken solche Sinn-Narrative in Deutschland wesentlich tiefer als in anderen Ländern.

 

Eine aktuelle Form dieser durchgehenden Sehnsucht nach der Re-ligio, der Rückbindung an einen umfassenden Sinn, ist der Great Reset. Und so ist es kein Zufall, dass das WEF seit mehr als 50 Jahren von einem Deutschen geführt wird, der wiederum von einem anderen, in Fürth geborenen Deutschen angeleitet wurde, nämlich Henry Kissinger.

 

Da mag es zwar andere Nationen verwundern, wie die Deutschen Politiker wählen können, die ausdrücklich mit Deutschland als Vaterland nichts anfangen können, nicht aber viele Deutsche selbst. Dahinter verbirgt sich, wie wir sehen, eine tausendjährige Tradition. Diese eigenartige Art von Idealismus erweist sich immer schon als zweischneidig. Er hat für die Menschheit Großes hervorgebracht. Zugleich fiel und fällt er immer noch leicht dem stärksten Missbrauch zum Opfer.

 

Karl Hofmann

Kairos Inspirationen 2024/#22

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… Die ich rief, die Geister, werd´ ich nun nicht los.

 

Aus: der Zauberlehrling von Johann Wolfgang von Goethe 1797

 

Der Westen hat in besonderem Maße über Gott, den alten Hexenmeister, zu verfügen versucht. „Seine Wort´ und Werke merkt´ ich und den Brauch, und mit Geistesstärke tu ich Wunder auch.“ Aus dem Blickwinkel des 18. Jahrhunderts sind es lauter Wunder, was heute unseren Alltag bestimmt. Man denke nur an unsere Mobilität und unsere Kommunikation.

 

Die Allmachtsfantasien haben aber auch noch andere Konsequenzen. Sie erlauben eine ungeheure Grausamkeit, die sich auf vielen Schlachtfeldern abspielt. Wie aber ist es möglich, so sehr das menschliche Maß zu verlassen, so wenig zu empfinden, was man hier den Menschen und der Welt antut?

 

Ein wesentlicher Grund dafür ist die Distanz derer, die entscheiden. Sie sind innerlich und äußerlich weit weg. Sie arbeiten gleichsam mit Knopfdruck. Sie sehen keine abgerissenen Arme und Beine, keine schreienden Verwundeten, keine toten Kinder.

 

Sie sind besessen von abstrakten Ideen und Kräften, für die und mit denen sie kämpfen: Geopolitische Vorstellungen, globalistische Kampfbegriffe wie Klima und Gesundheit. Sie ringen im Grunde mit etwas Unendlichem, mit einer absolut für alle gültigen Idee, die mit allen Mitteln zu verwirklichen ist.

 

Diese Idee ist nicht neu. Sie ist der Kern des historischen Energiesystems, das man früher Abendland nannte, das inzwischen aber die gesamte Welt durchdringt und beherrschen will. Es ist ein absolutistisches System. Der Sinn des Ganzen wird als ein absoluter Anspruch erlebt. Zweimal hat er in der Geschichte schon sein Gesicht so deutlich gezeigt, dass die Historiker nicht anders konnten als von einem kirchlichen bzw. höfischen Absolutismus zu sprechen.

 

Der kirchliche Absolutismus begann im zehnten Jahrhundert, vom Kloster Cluny in Frankreich ausgehend. Er stellte den Anspruch des himmlischen Jerusalems über alle natürlichen Ansprüche von Adel und Volk. Im 13 Jahrhundert war es soweit, dass er glaubte, sich in der Gestalt des Papsttums absolut durchsetzen zu können.

 

Der höfische Absolutismus begann im 14. Jahrhundert mit der Renaissanceidee des Individuums. Das Ideal war, dass es von keiner anderen Instanz abhängig sei als von seiner inneren Vernunft, wie immer die geartet war. Diese Idee vollendete sich in einer Ausstrahlung, die die ganze Kultur beherrschen wollte. Den Gipfel dieses höfischen Absolutismus bildete das System des französischen Königs Ludwig XIV, dass im 17. Jahrhundert seine Vollendung in Versailles fand. Man versuchte alle Menschen des Herrschaftsbereiches der Kontrolle dieses Systems zu unterwerfen.

 

Ab dem 18. Jahrhundert entwickelte sich die dritte große Allmachtsvorstellung: die Idee einer allgemeinen Menschheitsreligion (siehe Lessing, Nathan der Weise), verbunden mit einer Weltregierung , einer Freiheit von allen traditionellen gesellschaftlichen Bindungen (Idealismus), einer Wahrheit, deren Objektivität allein in der Natur lag. Diese Idee verbreitete sich zunächst unter den Intellektuellen, angeführt von Geheimgesellschaften wie den Freimaurern oder den Illuminaten. Geschichtliche Form gewann sie am stärksten in der Gründung der USA.

 

Nun entspricht das 21. Jahrhundert dem 13. und 17. Jahrhundert. Wir sehen den Willen, den absoluten Verstandesanspruch durchzusetzen. Er verkleidet sich nicht mehr geistlich oder königlich. Er erscheint anonym, rational, transhuman. Sein Symbol ist die künstliche Intelligenz. Ziel ist die absolute technologische Herrschaft und Kontrolle.

 

Die zwei, im Vergleich noch scheinbar überschaubaren Vorläufer zeigen uns, dass es hier um einen absoluten Sinnanspruch geht. Man will eine Einheit des gemeinsamen Denkens, Fühlens und Handelns erzwingen. Die Idee der neuen Weltordnung ist schon 300 Jahre alt. Aber nun glaubt die kleine Elite derer, die lange schon verborgen daran arbeitet, die menschlichen Bindungen an Familie, Firma oder Nation zu überwinden, die Idee zur praktischen Vollendung führen zu können. Was bisher Verschwörungstheorie war, wird offen ausgesprochen.

 

Dieser Absolutismus ist der letzte universale Weltanspruch dieses historischen Systems. Er fordert zum Kampf für das Menschsein heraus. Wer in diesem Sinne für die persönliche, familiäre oder nationale Freiheit und Bildung kämpft, sollte allerdings wissen, mit welchem historischen Kairos er es zu tun hat. Der Kampf ist umfassend und lebensbedrohlich. Es geht ein letztes Mal um sehr viel, um den allmächtigen Sinnanspruch eines Systems, das sich seit über 1000 Jahren durch die Weltgeschichte bewegt.

 

Wer dies sich bewusst macht, darf aber auch Zuversicht schöpfen. Denn die historischen Kräfte haben den Anspruch schon zweimal in seine Grenzen verwiesen und damit gebrochen.

 

Karl Hofmann

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