Kairos Inspirationen 2024/#40 – 03. November 2024
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Make America great again.
Donald Trump
Diese Kairos Inspiration zur aktuellen Präsidentenwahl den USA kann keine historische Kairosanalyse sein. Eine solche müsste sich differenziert mit vielen Aspekten der aktuellen Weltlage auseinandersetzen. Sie müsste auch das fraktale kairologische Netzwerk und seine in dieser Zeit maßgebenden Stränge aufschlüsseln. Anders ist eine angemessene Deutung der historischen Bewegung nicht möglich. Sie müsste auch der subjektiven Schwierigkeit begegnen, dass jeder von uns sich längst seine eigenen Bilder der richtigen Personen und ihrer Absichten geformt hat. Es kann in dieser Inspiration auch nicht darum gehen, über Information und Desinformation zu streiten.
Ich möchte versuchen, für die aktuellen Bedrohungen, Sorgen und Hoffnungen eine andere Perspektive ins Spiel zu bringen.
Mein Ansatzpunkt dafür ist, vielleicht für manche überraschend, die Kairos Lebensphase. Was sich zu diesen Lebensphasen ausführen lässt, ist gut in Bezug zur eigenen Erfahrung zu setzen. Der Weg zur ganzheitlichen Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ist mit dem Wissen um ihre Kräfte, Muster und Ausformungen leichter nachzuvollziehen.
Schwerer ist es, sich vorzustellen, dass jeder von uns zugleich eine Zelle in einer historischen Riesen-Persönlichkeit ist. Dieser Riese, den wir üblicherweise als große Kultureinheit sehen, durchläuft die gleichen Kairos Lebensphasenfelder wie jeder von uns, nur auf einer höheren Ebene. Auch dieser Riese hat Eltern, ist einmal geboren worden, hat Kindheit und Jugend durchlaufen, einen bestimmten Charakter entwickelt und sich eine sichtbare Machtposition in der lebendigen Geschichte der Menschheit erobert.
Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, fragen wir uns bloß, wo in seinen Riesen-Lebensphasen jener Riese steht, der früher als abendländische Kultur identifiziert wurde, heute als westliche, weltweit wirkende Zivilisation gilt. Die Antwort der Kairologie lautet: Der Riese ist in einer neunten historischen Kairos Lebensphase, etwa analog zum Alter 54/55.
Bei jedem von uns ist diese neunte Lebensphase die letzte der individuellen ganzheitlichen Persönlichkeitsentfaltung (knapp 52-58 Jahre). Danach fordert uns das Leben auf, uns in größere Ganzheiten zu integrieren.
Der Riese ist auf Menschheitsebene gerade mit der gleichen Aufgabe konfrontiert. Die eigenen und adoptierten Kinder (beim Riesen heissen sie Völker und Kolonien) sind großteils erwachsen. Sie wollen sich lösen aus der patriarchalen Abhängigkeit.
Wie ein erfolgreicher und machtbewusster Mann, so will auch der Kultur-Vater nun seine geschaffene Welt der Natur- und Menschenbeherrschung bewahren. Zugleich spürt er, dass er auf Vasallen und Sklaven, auf die Kräfte (Rohstoffe und Arbeitskräfte) anderer immer mehr angewiesen ist. Er droht mit allem, was er hat, und weiß doch, dass er damit nicht mehr die Abhängigkeit erzeugen bzw. erhalten kann wie in seinen stärksten Zeiten.
Viele Unternehmer versuchen in der neunten Lebensphase, das Erreichte abzusichern gegenüber allen, die es gefährden könnten. In ähnlicher Weise hat nun auch der Westen jetzt angefangen, das eigene Reich, , systematisch abzugrenzen, beginnend mit den traditionellen Partnern bzw. Vasallen. Ein Beispiel dafür ist, wie der Westen jetzt systematisch eine Kette neuer NATO Stützpunkte (bisher: Litauen, Rostock, Rumänien) gegenüber den „russischen Barbaren“ errichten will. Analog zur gleichen Zeit der antike römische Staat damit begannen, einen Gürtel von Kastellen gegenüber den germanischen bzw. den kleinasiatischen „Barbaren“ zu bauen.
Mann und Frau sollen in der neunten Lebensphase lernen, anders miteinander umzugehen. Um eine echte Ganzheit zu erreichen, ist von innen heraus das männliche ICH aufgefordert, sich auf das WIR und den gemeinsamen Geist hin zu entwickeln. Die primär resonanzbezogene Frau hat ihr eigenes ICH zu entwickeln und zu behaupten.
Genauso im Großen. Der historische Riese hat viele Jahrzehnte die Natur von Mensch und Kosmos nur von der männlichen Machtseite her betrachtet. Nun wird ihm mehr oder weniger schmerzhaft bewusst, dass er dabei die weibliche Seite bisher ignoriert, vergewaltigt oder unterjocht hat.
Wie wieder beides miteinander verbinden, ohne dabei seine Machtfülle zu verlieren? Wie die Einheit der „demokratischen“ Menschheitsfamilie bewahren, ohne die väterliche Macht und sein Selbstverständnis als Gottes auserwähltes Volk aufzugeben? Einem 55-jährigen stellt sich diese Aufgabe genauso wie dem Riesen.
Wie sieht das gegenwärtig historisch aus? Unübersehbar stehen sich inzwischen zwei Modelle der neuen Weltordnung feindlich gegenüber, das „männlich“ unipolare und das „weiblich“ multipolare. Noch hat keiner die Lösung gefunden, wie Vielheit und Einheit auf der Sinn- und Machtebene verbunden werden können. Noch glauben die führenden Köpfe der westlichen Elite, sie könnten ihre Hegemonie nur erhalten, indem sie den ganzen Körper mit seinen Milliarden Menschenzellen geistig und körperlich mit allen Mitteln auf ihre Linie bringen. Noch wagt es die eigene weibliche Seite, in diesem Riesen nicht, sich aus der Unterwerfung unter die Machtstrukturen zu befreien. Man schaue sich dazu zum Beispiel die konforme Haltung der christlichen Kirchen an.
Gleichzeitig wächst nun bereits sichtbar ein gemeinsames Bewusstsein jener Völker heran, die im Verhältnis zu dem Riesen ein „weibliches“ multipolares Selbstbewusstsein entwickeln. Viele Länder des Ostens und Südens sind jetzt aktiv dabei, eine Stärke und Selbstständigkeit zu entwickeln, bei der die Gewaltanwendungen und Bestechungen immer weniger verfangen. Das Stichwort dazu: BRICS+
Ein Ergebnis der nächsten Jahrzehnte wird sein, dass man die alten geopolitischen Herrschaftsverhältnisse nicht mehr aufrechterhalten kann. Man wird zähneknirschend akzeptieren müssen, dass die unipolare universale Weltordnung nicht mehr weltweit durchzusetzen ist.
Bis diese Einsicht sich aber in tatsächlich geltenden Verträgen (durch) gesetzt haben wird, das sagen die kairologischen Analogien, wird es noch wenigstens 15 Jahre dauern. Es wird erst der Fall sein, wenn alle Beteiligten bereit sind, ihre Ansprüche in ein größeres Ganzes zu integrieren.
In unserem Riesen wächst gegenwärtig aber auch noch ein großes gesundheitliches Problem heran. Den westlichen „Mann“ hat in Teilen ein aggressiver geistiger Krebs erfasst, der seine gesunde Volkssubstanz mit vielen Metastasen angreift. Das gesellschaftliche Immunsystem, früher einmal von Familie und Kirche getragen, ist im Großen wie im Kleinen massiv bedroht. Die Widerstandskraft der alteingesessenen Bevölkerung gegen jene neuen Zellen, die sich einnisten, ohne sich zu integrieren ins Gesamtsystem, ist in den letzten Jahrzehnten massiv geschwächt worden.
Bei der amerikanischen Präsidentenwahl geht es jetzt noch nicht um eine Änderung des grundsätzlichen Hegemonieanspruchs. Es geht vorrangig darum, ob dafür in nächster Zeit wieder auf die ureigenen „gesunden“ amerikanischen Kräfte oder auf die übernationale Idee einer einheitlichen Weltordnung gebaut werden soll. Trump betont, dass die eigene Gesundung die Voraussetzung dafür sei, die unipolare Welt zu vollenden, während die „demokratische“ Gegenseite von vornherein den eigenen Volkskörper in einem größeren Gebilde aufgehen sieht. Daher ist die Auseinandersetzung grundsätzlicher als früher und die alte amerikanische Bereitschaft, sich einem Wahlspruch zu unterwerfen, ist kaum noch vorhanden.
Wir sind an einer spannenden Wegscheide der Geschichte.
Karl Hofmann
Kairos Inspirationen 2024/#39 – 27. Oktober 2024
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Der Mensch kommt nur dazu, etwas Eigenes aufzustellen, wenn er sich davon überzeugt, dass das Vorhandene ihm nicht genügt hat.
Achim von Arnim
Die großen Entscheidungen sind in der Kairos Lebensphase 5 (25-32 Jahre) gefallen. Irgendwo habe ich mich eingewurzelt. Wie manchen Pflanzen eher ein karger Untergrund entspricht, andere weiche Erde brauchen oder den Schutz des Waldes, wieder andere nur im Dschungel gedeihen, so hat auch jeder von uns bis ca. 32 wenigstens eine Idee davon, wohin er oder sie gehört.
Nun beginnt der Schwerpunkt auf dem schöpferischen Wachstum zu liegen. Wie eine Pflanze sich vorbereiten muss, ehe alle Kraft in die Früchte fließen kann, so geschieht es auch bei uns bis zum 39. Lebensjahr. Es geht um Wachstum, Entwicklung und Ausbildung der eigenen Werteordnung. Zu unserem schöpferischen Wesen gehört es, dass keinem von uns das Vorhandene ganz genügt. Die Entwicklung des Eigenen ist aber nicht einfach ein innerer Prozess, sondern spielt sich in der Kommunikation mit anderen ab.
Eine dreifache Polarität öffnet sich. Die Lebensentfaltung deines Wollens ringt mit schon vorhandenen Positionen und ihren Trägern. Der Glaube an bestimmte Ideen und Werte sucht Wege, andere davon zu überzeugen und entwickelt sich im Rahmen dieser Kommunikation weiter. Mann und Frau ringen im Arbeitsteam bzw. in der Familie darum, wie eine Einheit in der Polarität unterschiedlichen Denkens, Fühlens, Handelns innerlich zu halten oder zu gewinnen ist.
Es ist eine Zeit, in der man sehr deutlich spürt, dass die menschlichen Beziehungskräfte miteinander ringen. Du suchst Gemeinschaft. In dieser Zeit wird Leben am stärksten als lebendiges persönliches Miteinander empfunden. Sei es geistig mit Autoritäten und Autoren, die dich ansprechen, sei es familiär im Freundeskreis, über Kindergarten oder Schulveranstaltungen, sei es im gemeinsamen Arbeiten, sei es auch bei Fortbildungen, bei denen vor allem auf die persönliche Überzeugungskraft der Lehrenden geachtet wird.
Es ist eine persönlich kreative Zeit. Wer eine Familie gegründet hat, träumt vom individuell gestalteten Eigentum. Liebevoll durchgeführte Kindergeburtstage, gemeinsame Urlaube und Ausflüge, außergewöhnliche Herausforderungen, berufliche Experimente spielen eine wichtige Rolle. Der Spaß von Eltern am schönen Gestalten wie auch an gelegentlichen Abenteuern kommt Kindern im Grundschulalter total entgegen. Es ist auch die Zeit des spielerischen Ausprobierens von Neuem in der Arbeit, die beste Zeit für Startups. Die schöpferischen Hauptwerke wachsen heran.
Es ist auch nicht unerheblich für Unternehmen, um das Wesen dieser Lebensphase zu wissen. In dieser Zeit haben sie nämlich einen großen Vorteil davon, wenn sie ihren Mitarbeitern einen großen schöpferischen Spielraum gewähren, eher locker mit festen Strukturen umgehen und Platz zum freien Austausch schaffen.
Kehrseite dieser Lebensphase ist, dass viele sie zugleich als Rushhour des Lebens empfinden. Beruflich und familiär wird die Lebens- und Beziehungskraft bis zum Äußersten eingefordert. Ich brauche die aus der Jugend gespeicherte Kraft, um hier JA sagen zu können. Werden die eigenen schöpferischen Anliegen niedergeschmettert, die beruflichen Ambitionen brutal ausgebremst, kann das zu einem deutlichen Rückzug aus wesentlichen Beziehungen führen. Denn von anderen nicht anerkannt, von Vorgesetzten zu sehr getadelt zu werden, trifft einen in dieser Zeit stärker als zu anderen Zeiten.
Der Übergang von L6 auf L7 wird von alters her als Lebensmitte beschrieben. Er hat gleichsam „Schwellencharakter“. In einer der nächsten Inspirationen werden wir auch diese Schwelle geistig überschreiten und die damit verbundenen Wandlungen zu skizzieren versuchen.
Karl Hofmann
Kairos Inspirationen 2024/#38 – 20. Oktober 2024
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Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.
J.K.Rowling
Welches ist die wichtigste Zeit in unserem Leben? Darüber lässt sich trefflich streiten. Denn es scheint sehr von der subjektiven Wahrnehmung abzuhängen. Für manche Mutter ist es wohl die Zeit ihrer Geburt(en), ganz gleich, wann das chronologisch der Fall ist. Für manchen Mann ist es vielleicht die Zeit seiner größten Erfolge oder beruflichen Umbrüche. Für andere sind es bestimmte Erlebnisse, glückliche oder schreckliche Erfahrungen.
Das ist alles nachvollziehbar. Und doch möchte ich behaupten, vom Kairos her gibt es eine gewisse maximal bedeutsame Zeit und das ist die Zeit zwischen 25 und 32 Jahren. Es ist die fünfte Kairos Lebensphase. Entscheidungen, die in dieser Zeit gefällt werden, sind verbunden mit maximaler persönlicher Lebensenergie. Wir können überzeugt sein, etwas für das ganze Leben Bedeutsames zu tun. Wer in L5 wagt, wagt existenzieller als vorher und nachher.
Verbunden ist diese Kairos Lebensphase mit drei Wandlungen sehr grundsätzlicher Art. Zum Einen ist es die Zeit des Übergangs vom Werden zum Gestalten. Zum Zweiten ist es die Zeit der stärksten Frage nach dem, was ich persönlich wirklich glaube. Zum Dritten ist es die Zeit der wesentlichen Wandlung von Beziehungen.
Was hier geschieht, wird über seine ferneren Auswirkungen klar erkennbar. Die ersten vier Kairos Lebensphasen können wir die Zeit des Werdens nennen. Im Werden bin ich primär Empfangender. Ich empfange ein bestimmtes Maß an Kraft des Liebens, des Glaubens, des Hoffens und der Wahrnehmung einer Welt, die ich bejahen kann. Ich erfahre zeichenhaft, was ich kann, was mir an Temperament, Talent, Intellekt, emotionaler Kraft gegeben ist.
In Kairos Lebensphase 5 kommt nun aber die drängende Frage: Was will ich damit gestalten? Welche Ideen der Weltgestaltung begeistern mich? Welcher ferne Gipfel taucht vor mir auf, den ich gerne erreichen möchte? Was also möchte ich aufbauen? Eine Familie, eine Karriere, ein sicheres oder gefahrvolles Leben? Zu welcher Welt will ich gehören? Wie viel Kraft möchte ich wofür aufwenden? Fragen solcher Bedeutsamkeit kehren erst in den 50er Jahren wieder.
Es sind mehr oder weniger bewusste Grundentscheidungen, die ich fälle. Gerade weil mein Innen mich dazu drängt, ohne dass ich vielleicht sofort JA dazu sagen kann, wird es manchmal schmerzvoll und quälend, die eigene Richtung zu finden.
Wage ich loszugehen? Wenn ja, mit wem? Oder allein? Wie viele Strapazen bin ich bereit, für meine Idee von Lebenserfolg auf mich zu nehmen? Wie sehr kann ich Begeisterung für eine Aufgabe entwickeln, für einen Menschen? Wie sehr wage ich es, mich dem Risiko auszusetzen, zu scheitern? Kann ich etwas gut genug, dass ich darauf setze? Was traue ich mir an Verantwortung für das Leben, für eine Familie, für ein Team, für ein Werk zu?
Das sind zuerst innere Weichenstellungen, die bis zum Alter von etwa 50 Jahren die Richtung vorgeben. Sie können sich in vielen Gestalten zeigen, so zum Beispiel in der Wahl einer Selbständigkeit oder einer sicheren Stelle. Genauso in einer Hochzeit, in Kindern, in Stellenwechseln, in öffentlichen Auftritten …
Aber die grundlegenden Änderungen beziehen sich nicht nur auf die Art meiner Lebensentfaltung, der Bildung des für mich bedeutsamen Lebensraums. Sie beziehen sich auch auf das, was nun ich wirklich glaube. Bleibe ich bei dem, was mir die Autoritäten meiner Kindheit und Jugend an Werten, Normen, Idealen, Glaubenssätzen beigebracht haben? Oder wende ich mich davon ab? Baue ich mir eine neue Glaubenswelt auf? Was denke ich wirklich? Wovon bin ich überzeugt? Wieviel ist mir das wert, was ich für richtig halte? Oder löst sich bei genauerem Hinschauen alles auf, was ich einmal für wahr und maßgebend hielt?
Es sind oft schwierige Prozesse, die sich in einem abspielen. Sie haben nicht selten zu tun mit wachsender Distanz zu bisher sehr vertrauten Menschen, Gruppierungen, Ansichten. Sie führen manchmal dazu, dass neue Menschen in mein Leben treten, mich neue Realitäten begeistern und große Ideen wecken.
Mit all dem eng zusammen hängt auch die Veränderung meiner Beziehungen. Viele Jugend- und Studentencliquen lösen sich auf. Ich überlasse meine Beziehungen nicht mehr einfach dem Zufall oder der Gewohnheit, sondern ich wähle aus. Ich suche den Kern des anderen, die Seelenübereinstimmung, den gemeinsamen Geist.
Zuletzt aber sind diese verschiedenen Stränge von Kairos Lebensphase 5 zueinander ins Verhältnis zu setzen, zu gewichten. Hat zum Beispiel die Idee einer Familie Vorrang vor dem mangelnden Verständnis füreinander, das ich spüre? Hat die große Karriere Vorrang vor bestimmten Wertvorstellungen? Will ich eher kleine oder große Brötchen backen?
Sich in L5 seinem Kairos zu stellen, heißt also in erster Linie, sich auf seine grundsätzlichen und weitreichenden Impulse einzulassen. Oft sieht man erst viele Jahre später, welche Kairoskräfte zu jener Zeit wirklich in einem gewirkt haben. Und so kann auch ein später Rückblick wertvolle Erkenntnisse bringen, wenn es um die Frage geht, was damals wirklich in einem vorgegangen ist.
Karl Hofmann
Kairos Inspirationen 2024/#37 – 13. Oktober 2024
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Es wird jedem einleuchten, dass jede Verstärkung des Strebens nach persönlicher Macht der Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls Abbruch tut.
Alfred Adler
Es ist interessant, wie im Christentum der Weg vom WIR zum ICH ging. Ursprünglich war das „WIR glauben“. Ursprünglich hieß es: „Vater UNSER“. So das einzige Gebet, von dem man schrieb, dass es Jesus lehrte. Es sind DIE Apostel als Zeichen der zwölf Stämme Israels, die Jesus umgaben. Zwar ist Petrus der Sprecher, aber er erweist sich auch als Groß-Sprecher. Er versagt jeweils wenn sein Einsatz gefragt war. Als er über das Wasser (des Lebens) laufen soll, versinkt er. Als er zu Jesus stehen soll, verrät er ihn dreimal.
Später erst erhebt sich die Kirche von Rom über die anderen. Und zwar nicht nur symbolisch, sondern sehr real. Aber wann war dieses „später“? War es wirklich schon im vierten Jahrhundert? Wirklich schon unter Pipin dem Kurzen 754 oder unter Karl dem Großen? Wirklich schon unter Otto II, der sich 962 vom Papst zum Kaiser salben ließ? Wohl noch später. Als das Abendland zum eigenen Bewusstsein erwachte und sich radikal abgrenzte zum Osten. Dort war bis 1054 der reale Schwerpunkt der Kirche. Die abendländischen Kaiser holten sich anfangs ihre Autorität durch die Nähe zu der byzantinischen Kaiserfamilie. Dann kam die erste Emanzipation, indem die Westkirche sich von der Ostkirche, einem tiefer geordneten WIR, formal trennte. Dann kam schon der erste Anspruch, die heiligen Stätten Israels nicht nur besuchen, sondern über sie verfügen zu wollen (erster Kreuzzug 1096).
Voraus ging bereits eine wesentliche Verwandlung. Man hatte begonnen, in die Liturgie das „Apostolische Glaubensbekenntnis“ einzufügen. Es fing nicht mehr mit dem „WIR glauben“ an, sondern mit dem „ICH glaube“ (Credo). Das ICH trat riesengroß in den Vordergrund des Bewusstseins.
Und so auch die Gestalt des Petrus als einzeln da stehender Fels.
Das WIR wurde zum sprachlichen Kleid, zur Formel, die noch daran erinnerte, was der Ausgangspunkt der Entwicklung war. Es hatte aber keine tiefere Bedeutung mehr.
Wieviel WIR lässt sich von einem ICH aus beherrschen? Das fragten die Bischöfe genauso wie die Fürsten. Der triumphale kirchliche Gipfel dieses ICH war Papst Bonifaz VIII. Er beanspruchte sehr real für sich die Vergabe des geistlichen und weltlichen Schwertes (1302). Der triumphale monarchische Gipfel dieses ICH war Ludwig XIV im 17. Jahrhundert. SEINE Vernunft war Versailles, war Frankreich, war Europa.
Inzwischen ist das ICH demokratisiert worden. Es geht um mein Leben, meine Rechte, meine Träume. Und wieder versuchen gewisse ICHs, die Chefs von … die Kräfte dieser Masse von ICHs abzusaugen. Sie sind dem einen, in der Spitze anonymen ICH zu unterwerfen, das die „demokratische“ Variante von Papst und Kaiser darstellt.
Von hier aus wird ein WIR erzwungen. Aber nach Möglichkeit nicht direkt. Das wäre unschön, ja geradezu primitiv. Das ICH muss schließlich in seiner ICH-Freiheit geachtet werden. Für den Zwang bleiben zwei Vorgehensweisen. Die rechtliche und die psychologische.
Die rechtliche Anordnung beruft sich auf eine rationale Repräsentation aller ICHs, so zum Beispiel über Wahlen. Die psychologische Methode beruft sich auf die wissenschaftlich durchdrungene Psyche. Indem man inzwischen zu wissen glaubt, wie sie funktioniert, ist man sich auch sicher, das Freiheits- und Unabhängigkeitbewusstsein so manipulieren zu können, wie man es braucht. Während man über die inneren Kräfte verfügt, lässt man dem Betroffenen aber natürlich den Schein, ein freies ICH zu sein.
Von außen her ist schwer zu unterscheiden, welche menschliche Gemeinschaft Ausdruck eines Willens ist und welche Funktion eines Willens ist. Bilden die ICHs ein WIR, weil in ihnen das WIR den Vorrang hat, oder ist es ein vorgegebener Zweck, der sie dazu zwingt, ein WIR zu bilden?
Die zweite Variante hat in den letzten 1000 Jahren mit immer größerer und abstrakterer Gewalt die Geschichte bestimmt. Immer noch zielt dieser Wille, der inzwischen keinen persönlichen Namen mehr hat, auf den Traum eines absolut herrschenden Imperiums ab. Aber dieser Wille wird inzwischen immer weniger vom Volkskörper getragen. Mithilfe der Gewalt von Gesetzen, Medien, Geld, Polizei und Militär wird heute versucht, diesen alles umfassenden EINEN Willen durchzusetzen bzw. aufrecht zu erhalten. Aber wenn seine Träger den Unterbau des Volkswillens nicht mehr pflegen, wenn sie dem eigenen Machtanspruch selbst nicht mehr gewachsen sind und sich in alle Arten von Blutauffrischung und Blutsaugerei flüchten müssen, verheißt dies nichts Gutes.
Wir erleben bereits, dass jene Völker aufbegehren, in denen das ursprüngliche WIR noch, oder wieder, wach und stark ist. Wann wird das funktionale WIR dem inneren WIR weichen müssen?
Karl Hofmann
Kairos Inspirationen 2024/#36 – 6. Oktober 2024
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Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.
Ludwig Wittgenstein
Naturgemäß geht es in den Kairos Inspirationen um Kairos, die bedeutungsvolle Zeit. Aber wie wird dieses Wort wann gebraucht? Anders gefragt: um welches Kairos Verständnis geht es uns dabei? Wenn wir sagen, dass alles seine Zeit hat, dann wäre es widersinnig, hier zu behaupten, eine objektive überzeitliche Wahrheit zu besitzen.
Wir dürfen uns daran erinnern, dass auch wir selbst Teil eines bestimmten geschichtlichen „Sprachspiels“ (Wittgenstein) sind. Kein Begriff kommt ohne ein solches aus. Und jedes Sprachspiel ist letztlich Ausdruck eines bestimmten geschichtlichen Lebensspiels.
Ohne Zweifel gelten die kairologischen Zeiteinheiten und Entfaltungsmuster für alle Menschen bzw. kulturellen Systeme. Aber daraus folgt nicht, dass alle Menschen diese so in seiner Bedeutung wahrnehmen könnten. Zwar kann ich bezeugen, dass in der Gegenwart nicht wenige Menschen fähig sind, solche Erkenntnisse für bedeutungsvoll zu halten. Und wer im Internet schaut, wird entdecken, dass das Interesse an dem Thema Kairos stark zunimmt. Aber hat die Bedeutung, die dieser Begriff bei uns jetzt gewinnt, viel zu tun mit dem, was er im antiken oder frühchristlichen Sprachspiel bedeutet hat?
Lasst uns der Frage kurz nachgehen. Kairos ist in der griechischen Antike der jüngste Sohn des Zeus, also ein Gott des Augenblicks, ein Moment der Gegenwart in seiner Bedeutung. Wenn wir von bedeutungsvoller Zeit reden, ist das also im antiken Sprachspiel ein Gott. Überall, wo es gilt, gegenwärtig zu sein, ist er im Spiel. Wie auch das sonstige antike Denken nicht räumlich, sondern gegenständlich, punktförmig ist, so auch das Verständnis von Kairos. Man fragt nicht nach der Ordnung des Kairos, sondern bleibt beim Bewusstwerden des Augenblicks.
Ganz anders ist die Sichtweise von Kairos im Neuen Testament, der dort über 70 Mal vorkommt. Von Kairos ist die Rede, wenn es um die geschichtliche Zeit Gottes geht. Kairos ist bezogen auf das, die ganze reale Geschichte durchziehende Fluidum des göttlichen Plans. Gott hat hier einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende gesetzt. Im Judentum wird es vorgestellt im Erscheinen des Messias, im Christentum als Wiederkunft Christi. Es ist hier undenkbar, die Zeit zurück und nach vorne ins (nahezu) Unendliche auszudehnen. Innerhalb des vorbestimmten Weges haben auch die Völker (ethnoi) ihre eigenen kairoi (siehe zum Beispiel Lukas 21,24). Doch in allen Fällen ist mit dem Anfang der Zeit schon das Ende gegeben. Jeder Punkt ist dieser göttlichen Zeitordnung unterworfen und nur von da her zu sehen und zu erleben.
Das lateinische Sprachspiel hat sich von der göttlichen Tiefe des Kairos schon so entfernt, dass es dafür nicht einmal ein Wort hat. Die lateinische Bibelübersetzung identifiziert somit Kairos mit Tempus oder Tempora. Entsprechend wird auch in der aktuellen deutschen Einheitsübersetzung Kairos mit Zeit oder Zeiten übersetzt. Dadurch verschwindet seine tiefere Qualität.
Das Mittelalter war sich noch bewusst, dass die Zeit grundsätzlich erst aus der Beziehung zu Gott und seiner Schöpfung erwächst. Die Renaissance wusste noch um den Kairos als ein Phänomen, das in Beziehung zur sinnvollen Sternkunde, der Astrologie, stand. Je mehr dann die leere, für alles offene Zeit im Ticken von Uhren gesehen und gehört wurde, desto mehr entleerte sich auch der Bezug von Kairos zum Gesamtzusammenhang des schöpferischen menschlichen Werdens. Kairos wurde zur günstigen Gelegenheit, zum Glauben an einen Vorteil, den man nach Möglichkeit nicht versäumen sollte.
Wir sind dabei, Kairos für uns neu entdecken. Das heißt auch, ihn wieder in die Mitte des abendländischen Sprachspiels zurück zu holen. Dabei ist die Frage, ob dieser Kairos nun als Gott oder als Ausdruck einer göttlichen Geschichtsbestimmung verstanden wird, für unseren Sprachgebrauch zweitrangig.
Wenn Chronos die Funktion der messbaren, vom Menschen wahrgenommenen Bewegung der sichtbaren Realität ist, dann ist Kairos die Funktion der energetischen Bewegung der vom Menschen wahrgenommenen Welt. Was hier mit energetisch gemeint ist, drückt sich am besten in dem Wort Bedeutung aus. Bedeutungsvoll kann für uns ein Zeitpunkt nur sein innerhalb einer Dynamik, die Anfang und Ende auf vielen Ebenen hat. So gebrauchen wir Kairos in einer sinnvollen und erhellenden Weise.
Karl Hofmann
Kairos Inspirationen 2024/#35 – 29. September 2024
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KI ist gefährlicher als Atombomben.
Elon Musk
Wer am PC heute die Programme von Microsoft oder Adobe verwendet und Texte formulieren möchte, dem wird angeboten, sich bei der Abfassung von der künstlichen Intelligenz (KI) helfen zu lassen. Das werden nicht wenige in Anspruch nehmen. Es ist bequem und hilfreich, wenn die eigene Ausbildung der deutschen oder fremden Sprache nicht mehr tief und grammatikalisch wie auch rechtschreibmäßig sicher ist.
Gleichzeitig merkt man, wie die KI lernt und sich immer mehr dem eigenen Denk-und Schreibstil anpassen kann. Ohne dass man darüber nachdenkt, führt dies dazu, dass man sich nicht nur daran gewöhnt, sondern anerkennt, dass sie einem, zumindest in diesem Bereich, überlegen ist.
Auf scheinbar ganz natürliche Weise wird so ein bestimmtes Grundmuster der Selbst- und Weltanschauung eingepflanzt. Dieses Grundmuster ist nicht neu, aber durch sein technologisches Gewand nur schwer wiederzuerkennen. Es hat sich schon zweimal in unserem geschichtlichen System durchzusetzen versucht. Das erste Mal im 13. Jahrhundert in der Schicht der geistig Gebildeten des christlichen Abendlandes, das zweite Mal im 17 Jahrhundert über den Denkansatz von René Descartes.
Bleiben wir heute beim Bezug zum ersten Versuch. Damals wie heute ging es um die Frage, wie den Menschen die Ewigkeit zugänglich und gewiss sein könne. Im geistlichen Gewand ging es genauerhin darum, wie der Mensch nach dem Tode fortbestehen könne.
Die einen hielten sich an Aristoteles, der geschrieben hatte, dass die Seele immer an den Körper gebunden und ohne diesen sinnlos sei. Für Aristoteles folgte daraus, dass mit dem Körper auch die Seele sterbe.
Die andere Sicht ging auf Platon zurück. Hier war die Seele wesentlich eine Ausdrucksform des ewigen Reiches der Ideen. Im irdischen Leben erinnerte sie sich mehr oder weniger an jene Welt. Im Tod löste sie wieder die oberflächliche Verbindung mit dem irdischen Körper.
Die Kirche des Mittelalters suchte beide Ansätze zu verbinden. Man sprach von der Geistseele, die den äußeren Körper „formen“ würde. Die Idee von der Geistseele sollte also beide Vorstellungen verbinden. Weil die Seele als Geist nicht stirbt, hat sie das ewige Leben. Weil die Seele als Lebensseele immer in Verbindung mit dem „Leib“, dem Körper des Lebens, bleibt, ist das ewige Leben ein einmalig persönliches Leben und eine Wiedergeburt nicht möglich und notwendig.
Was so abstrakt klingt, hatte sehr praktische Folgen. Eine davon war im christlichen Raum die absolute Durchsetzung der Beerdigung. Denn ewiges Leben war nur in Beziehung zum konkreten Leib möglich. Nur bei einer Beerdigung statt einer Verbrennung konnte die Vorstellung im Ansatz bewahrt werden. Der Leib würde beim jüngsten Gericht mit der Seele in gereinigter Form wieder vereinigt werden. Allerdings konnte sich dieses Modell der individuellen Geistseele gegen die Annahme einer kollektiven ewigen Geistseele erst auf dem Konzil von Vienne 1311 endgültig durchsetzen. Vor allem in den geistlichen Orden wurde zuvor massiv für den absoluten Vorrang des Geistes gekämpft.
Genau in einem solchen Kampf stehen wir 800 Jahre später erneut. Aus dem religiösen Geist ist inzwischen der technologische Geist der KI geworden. Die künstlich virtuelle Welt wird immer mehr zur realen Welt. Was mein Auge sieht, erhält erst seinen bleibenden Wert durch das digitale Verewigen über Foto und Video. Was ich schreibe, wird gewöhnlich sofort meiner überirdischen Welt des Computers oder gar der kollektiv überirdischen Welt einer Cloud anvertraut.
Der Wunsch der technologischen Eliten geht weiter. Die KI soll zur „Seele“ unseres realen Lebens werden. Schon heute gilt: das Internet vergisst nicht. Das Ideal der Zukunft liegt darin, dass du dich als ganze Person der technologischen Intelligenz überlässt, freiwillig oder erzwungen. Der Dank für die Bereitschaft zur völligen Digitalisierung und intelligenten Programmierung deines Körpers liegt darin, dass du glauben darfst, dass dein Wesen gleichsam ewig in seiner Informationsvielfalt erhalten bleibt.
Natürlich halten das viele heute noch für wahnwitzig, zeigt sich doch die KI dem einzelnen im Alltag nur als bescheidener Helfer. Aber das 21. Jahrhundert wird vom Kampf um diese höhere Sinnstiftung beherrscht bleiben. Erst am Ende wird die Elite einsehen (müssen), dass dieses Modell einer absoluten Beherrschung der menschlichen Person gescheitert ist. Wo wird ab 2090 das neue Konzil von Vienne stattfinden?
Karl Hofmann
Kairos Inspirationen 2024/#34 – 22. September 2024
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Alles, was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand.
Charles Baudelaire
Wir alle kennen den Spruch: Die Katze lässt das Mausen nicht. Warum? Das ist ihre Natur. Genauso hat jeder von uns ein instinktives Verhalten, seinen Charakter, seine scheinbar unveränderlichen Muster. Tatsächlich können wir uns zwar eine Zeitlang verstellen, anders handeln und reden, als wir sind, aber nicht auf Dauer.
Der Satz von Baudelaire lässt sich aber noch tiefer verstehen. Weder die tierähnlichen Instinkte noch die vielfältigen Prägungen verkörpern die ursprüngliche Natur des Menschen.
Seine ursprüngliche Natur ist, immer mit allem in einem Resonanz- und Kommunikationsverhältnis zu sein. Alles und jeder ist für uns eine Möglichkeit, mit der ich mehr oder weniger in Beziehung gehe. Angeblich fällen wir, so die Psychologie, bis zu 20000 Ja/Nein-Entscheidungen täglich. Die meisten dieser Entscheidungen bleiben gleich. Sie werden uns gewöhnlich gar nicht bewusst. Auf längere Sicht bemerkt jeder Veränderungen. Bei Kindern sind sie auch von außen leicht zu erkennen, bei Erwachsenen bleiben sie oft verdeckt und verdrängt.
Warum aber diese ständige Bewegung? Diese unsichtbare Wirklichkeit enthält eine eigene Dynamik. Die Natur des Menschen ist nicht, sondern wird ständig. Sie ist so, dass sie nicht unmittelbar zu etwas zwingt. Ich kann immer ausweichen, mich verschließen, mit dem Bewusstsein dagegen arbeiten, sie ignorieren.
Doch auf Dauer komme ich ihr nicht aus. Sie bringt sich in Erinnerung, nicht selten verkleidet oder materialisiert. Typisch dafür ist das Auftauchen von Krankheiten. Jemand, der lange die Behandlung von Krankheiten studiert hat, schrieb einmal: „Ich glaube, dass wir krank werden, wenn wir zu sehr von unserem Seelenplan abweichen, sprich, ein Leben leben, was nicht wirklich unseres ist. Die Lösung läge also darin, in sich rein zu hören und der inneren Stimme wieder mehr Beachtung zu schenken.“
Für mich ist der Kern des „Seelenplans“ jene Dynamik, die sich im Kairos zeigt. In ihm vereinigen sich „Plan“ und schöpferische Bewegung. Auf die „innere Stimme“ zu hören, heißt von da her auch, auf die innere Zeit zu hören. Sie ist nicht neutral, sondern hat gleichsam eine Richtung. Ihr Ziel ist, die eigene menschliche Natur bis zur maximalen Ganzheit zu entwickeln. Soweit wir diesen Weg gehen, gehen wir auch anders um mit dem, was wir Krankheit nennen.
Karl Hofmann
Kairos Inspirationen 2024/#33 – 15. September 2024
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Den „Kairos“ zu finden, das ist eine Form der Weisheit.
Frieder Lauxmann
Jeder von uns kann den Kairos auf verschiedenen Ebenen erfahren. Zunächst wird er als unmittelbarer schöpferischer Anspruch erlebt. So hörst du beispielsweise einen inneren Anruf im Hier und Jetzt. Es ist der schöpferische Augenblick einer Gewissheit, der Entscheidung, des Handelns. Es sind jene „Sternstunden“, in denen sich manchmal die Kraft und Bedeutung eines ganzen Lebens oder einer Epoche zusammenballt. Wer in einer solchen Situation seinen Kairos zulässt, gewinnt Großes. Wer zögert oder weghört, verliert die Kraft.
Kairos kann auch als Harmonie schöpferischer Schwingungen von Menschen, Gruppen Völkern wahrgenommen werden. Jeder von uns kann erleben, wie es Zeiten maximaler schöpferischer Kraft und ebenso „Wellentäler“ gibt. Wir erleben auch, wie der Drang, ein Problem zu lösen, von innen her zu- oder abnimmt, sich für eine gewisse Zeit alle Kraft darauf konzentriert. In ähnlicher Weise wachsen makrohistorisch zu bestimmten Zeiten Spannungen, sodass immer mehr Menschen von einer Art Fieber, einer kollektiven Bereitschaft zu etwas, erfasst werden können.
Kairos kann auch als die Einheit eines geistigen Raumes erfahren werden, in dem sich die Wirklichkeit ordnet. Er ist der energetische Kern jeder echten Aufgabe, ordnet sie ins Ganze ein, gibt ihr die rechte Zeit und Bedeutung. Ein Gedanke, ein Buch, die Organisation einer Firma können einen Kairos ausdrücken, sofern all dies optimal gelungen, maximal auf ein Ziel hin geordnet ist.
Zuletzt kann sich die Wirklichkeit des Kairos für uns in dem zeigen, was als Objektivität der Welt wahrgenommen wird. Hier erscheint der Kairos nicht mehr als flüchtiger Augenblick, sondern als sein Gegenteil, als unveränderbare Dauer. Kairos scheint aus dem Bewusstsein verschwunden zu sein, wenn es um das geht, was gerade fraglos als Tatsache oder „Objektivität“ anerkannt ist.
Kairos kann sich also sehr vielfältig offenbaren. Doch Vorsicht! Hier ist ständig die Rede vom „kann“. „Kann“ und „ist“ aber liegen häufig, ja meist auseinander.
Unser Problem sind die Vorstellungen und Bilder, die wir uns von allem machen. Jedes Bild, jeder Begriff verfestigt. Natürlich kommen wir den Bildern, der Sprache, den Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft nicht aus. Kairos aber verlangt, sie wieder loszulassen.
Da trifft eine Frau einen Mann. Sie entbrennt. Er scheint allen Vorstellungen eines idealen Partners zu entsprechen. Sie fixiert sich darauf. Jahre später erkennt sie enttäuscht, aber auch nüchtern: Die lebendige Bewegung des Lebens und seines Kairos war weitergegangen. Ihr Bild war stehengeblieben. Der Anruf des Augenblicks war weder bei ihr noch bei ihm verbunden mit der Offenheit der Bewegung. Früher oder später bricht solche Fixierung zusammen. Gewöhnlich unter großen inneren oder äußeren Schmerzen. Kaum jemand ist zunächst dankbar für solche Ent-Täuschung. Obwohl der Zusammenbruch hier gerade von der Täuschung befreit hat.
Nicht anders ist es, wenn jemand ein Buch schreibt und darin das Schöpferische seines Hier und Jetzt ausdrückt. Er glaubt fest, dass das Geschriebene auf Dauer und für alle oder viele gilt. Und stellt schließlich fest, dass der lebendige Zeit-Geist einfach darüber hinweg geht. Statt sich zu freuen, einen Moment in einer lebendigen Bewegung des Zeit-Geists dargestellt zu haben, ist er meist enttäuscht über den Zusammenbruch seiner Erwartungen.
Wer für sich den Kairos findet, und das hoffentlich immer wieder, hat also für sich „der Gottheit lebendiges Kleid“ (Faust I) berührt. Wir dürfen nur nicht glauben, dieses Lebendige des Menschseins festmachen zu können über unsere Vorstellungen. Den Kairos zu finden ist weise. Es bedeutet, einen tieferen Zugang zu unserem Leben gefunden zu haben. Es bedeutet aber auch, bereit zu sein, ihn wieder loszulassen, sich der Wandlung zu überlassen, die nicht von meinen Wünschen, sondern vom Kairos selbst ausgeht.
Karl Hofmann
Kairos Inspirationen 2024/#32 – 8. September 2024
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Wo etwas schwer und unerträglich wird, da stehen wir auch immer schon dicht vor seiner Wandlung
Rainer Maria Rilke
Es sind die Extreme, die uns zeigen, was den Menschen ausmacht. Mann oder Frau – was soll es Natürlicheres geben? Aber so selbstverständlich ist das nicht. Das zeigt beispielhaft die Tatsache von „Transgender“. Mehr noch, wie gegenwärtig leicht zu erkennen ist, kann eine Gesellschaft das Transgendern sogar forcieren, seine sprachliche Anwendung ihren Mitgliedern im Bildungssystem aufzwingen, es zu einer öffentlichen Norm erheben und jene in den Mittelpunkt stellen, die es sichtbar verkörpern. Man denke an den Österreicher Conchita Wurst, der einige Jahre als Frau auftrat, bis er sich wieder zu seinem Mannsein bekannte.
Es ist nachvollziehbar, dass sich viele darüber aufregen. Auch weil sie wahrnehmen, dass das Thema gegenwärtig künstlich gehypt wird. Unser Anliegen nun ist, das Thema auf einer anderen Ebene zu betrachten.
Das Geschlecht und das damit verbundene Selbstverständnis sind nicht einfach „naturgegeben“. Sein Geschlecht wird für ihn erst endgültig zu seiner Wirklichkeit, wenn er zu einem von beiden oder gar einem dritten oder gar vierten Selbstverständnis ja sagt.
Es ist also nicht so, dass die biologische Verfasstheit schon den Menschen ausmacht und sein Bewusstsein dies nur abbildet und vergeistigt. Sie ist vielmehr eine Wirklichkeit, die wesentlich auf einen Zusatzfaktor angewiesen ist, unsere Beziehung dazu.
Nicht die biologische Realität hat für den Menschen das letzte Wort, sondern seine spezifisch menschliche Dynamik. Der Kern des Menschen ist sein In-Beziehung-sein und dessen Dynamik. Diese Dynamik kann auch dazu führen, dass er sein geschlechtliches Selbstverständnis im Laufe seines Lebens wechselt, ja dass er damit sogar spielen kann.
Wenn Staat und Kirche in der Vergangenheit nur ein Bewusstsein von Mann oder Frau zuließen und das zur anthropologischen Verfasstheit des Menschen erklärten, dann stand dahinter ein kulturelles Wollen, das im Gewand von religiöser oder rationaler Objektivität auftrat.
Die Transgender-Bewegung verneint den bisherigen Weg. Sie tritt aber auf ihre Weise nun genauso dogmatisch auf wie die 2-Geschlechter-Sichtweise. Sie erhebt wiederum einen objektiven Anspruch, kämpft gegen die bisherige Perspektive und sieht nicht, dass das Gemeinsame beider Wege in einem Dritten liegt.
Der Mensch ist nicht dies oder das. Er ist wesentlich geschichtliche Bewegung, ein immer neues In-Beziehung-gehen mit seiner Wirklichkeit. Und so ist die eigentliche Frage: Was war das für ein schöpferischer geschichtlicher Weg, der lange Zeit nur diese Mann-Frau-Betrachtungsweise zuließ und alle anderen Regungen und Sichtweisen verdammte? Und was bedeutet es, dass dieser Weg der Verabsolutierung des Biologischen gerade zur absoluten sozialen Relativierung geführt hat? Wurde das scheinbar Natürliche manchen zu schwer, und zwar so sehr, dass sie es zum gesellschaftlichen Problem erhoben?
Tiefer betrachtet ist zu erkennen, dass das Frühere und Spätere zusammengehören. Wie das eine kein Hinterfragen zuließ, so nun auch das andere. Zu überwinden aber wäre dieser Gegensatz erst, wenn die Frage lautete: Was ist auf Dauer sinnvoller für das Leben des Ganzen? Was ist von diesem Ganzen hier leichter zu ertragen? Diesem Pfad folgt schließlich auch die geschichtliche Wandlung.
Karl Hofmann
Kairos Inspirationen 2024/#31 – 1. September 2024
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Das Leben gehört dem Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefasst sein
Johann Wolfgang von Goethe
Du kannst dir immer einen bestimmten ideellen Horizont erwerben. Er enthält deine Ziele, deine Werte, deine Ideen für die Zukunft. Mehr oder weniger deutlich entwickeln wir Bilder von guten Beziehungen, Familie, Arbeit, Autorität, Ländern … Was allerdings seiner eigenen Lebenszeit-Logik folgt, ist die Entwicklung der Bedeutung dieses Horizonts.
In der Zeit deines Werdens (Kairos Lebensphasen 1-4, bis ca. 25 Jahre) sind solche Bilder Ausdruck deines Wegs in die Welt. Du sammelst sowohl Kraft für die Idee selbst als auch für die Abgrenzung zu anderen.
Dann kommt das Lebensalter des Aufbaus, wo du in und mit deinem Verständnis arbeiten willst. Es geht nicht mehr darum, welchen Platz deine Ideen in dir haben, sondern welchen sie im lebendigen Schaffen deiner Welt im Rahmen der aktuellen Gesellschaft bekommen. Du benutzt also deine Vorstellungen, um Raum und unmittelbare Anerkennung, zum Beispiel über Bezahlung, zu erhalten.
Erst im Lebensalter des Bewahrens, ab den fünfziger Jahren, wird allmählich deutlich, welche Bedeutung der ideelle Horizont im größeren Kontext wirklich hat. Wie sehr drängt es dich, die damit verbundenen Wunschvorstellungen auf Dauer zu verankern in dem Lebens- und Kultursystem, zu dem du gehörst.
Wer etwa mit 60 bereit ist, Direktor eines Gymnasiums zu werden, der schöpft seine Motivation nicht mehr aus der Funktion, die man auf diese Weise erhält, sondern ihm oder ihr ist der Stil, in dem miteinander gearbeitet und umgegangen wird, so wichtig, dass man dafür die erhöhte Verantwortung und Mehrbelastung gerne noch auf sich nimmt. Am Ende scheidet man vielleicht mit der Hoffnung, für eine gewisse Zeit gezeigt zu haben, dass und wie es auch anders geht. Und vielleicht kommt noch hinzu, das eigene Muster an einige andere Lehrkräfte bzw. Schüler weitervermittelt zu haben.
Wesentlich relevanter als dieser Spezialfall ist für viele sicher das, was ich hier Familiensinn nenne. Diese Sinnausrichtung des Lebens wächst in jedem von uns über verschiedene Ebenen des Werdens bis etwa 25 Jahre. Schon früh klärt sich im Unbewussten, wie jemand zum Leben überhaupt steht. Wie sehr bejahe ich menschliches Leben in seiner Eingebundenheit in ein größeres Ganzes, das es zu erhalten gilt? Danach wächst in uns mehr oder weniger stark der Glaube, dass bestimmte Werte es wert sind, dafür Arbeit und Verantwortung zu übernehmen. Daraufhin gilt es, die Kraft zu erwerben, grundlegende persönliche Konflikte auszuhalten und das Vertrauen zu entwickeln, sie lösen zu können. Schließlich verbindet sich der Familiensinn mit dem Vertrauen, die damit verbundene und daher wohl zu erwartende Arbeitslast des Tages tragen zu können.
Dann kommen mehr als 25 Jahre, in denen all diese Kräfte nach Umsetzung und Bewährung verlangen. Die vorhandenen Kräfte schaffen sich die Formen, die ihnen tatsächlich entsprechen.
Manche fühlen sich blockiert, ihrem Familiensinn eine sichtbare Gestalt zu geben. Diese Blockade kann sich tausendfach rechtfertigen. Das Gegenüber passte nicht, die Zeit fehlte, die Gesellschaft, die Eltern, das Geld, der Ort …
Wer tatsächlich startet, stößt bald auf die nächste Problemebene. Welchen Stellenwert hat für mich bzw. für den Partner das Kind, die Familie, die Erziehung, die Welt der Werte? Dieses Ringen wird dann noch überwölbt durch die Frage nach der Würdigung des eigenen Ich durch den anderen. Ist auch jetzt, wo vieles an Kommunikation aussichtslos erscheint, der Familiensinn stärker? Ist diese Ebene bewältigt, bleibt noch die Frage nach dem Ja zur täglichen, die körperlichen und seelischen Kräfte bis zum Äußersten fordernde Arbeit in, mit und für die Familie. In dem, was tatsächlich gedacht, gefühlt, getan wird, zeigt sich der Bedeutungsweg des Familiensinns.
Ab Kairos Lebensphase neun (52-58 Jahre) wandelt sich die Bedeutungsqualität des Familiensinns. Der Abstand aller Beteiligten dazu wächst. Das heißt aber nicht, dass er von allen auch bejaht wird. Die einen klammern, die anderen werden noch umklammert. Und wieder gibt es 1000 Gründe dafür, nicht loszulassen. Viele aber verwandeln sich nun doch aus Vätern und Müttern zu Großvätern und Großmüttern.
Die neue Ebene lässt sich aber auch bewusster betreten. Manche fangen an, ihren eigenen Weg mit dem Familiensinn zu reflektieren und zu werten. Sie sehen, wie viel davon der eigenen Herkunft, den Vorurteilen und Einflussnahmen der Gesellschaft geschuldet war, wie sehr die nächsten Generationen wiederum ihre eigenen Wege gehen (müssen). Einige wenige gelangen hier nun bis zu der inneren Freiheit, das Ganze in seiner Stückhaftigkeit, Schuldhaftigkeit, Vergeblichkeit bejahend sein zu lassen. Viele ringen mit ihrem Verhältnis zu dem, was aus ihrem Bemühen geworden ist, bis zum letzten Tag. Und einige von ihnen reichen den inneren Unfrieden noch an die nächste Generation weiter.
Eine beispielhafte Wegzeichnung! Denn wie sich die Idee des Familiensinns über viele Lebensphasen hinweg in ihrer Bedeutung wandelt, so gilt das auch für alle anderen „Ideen“, die mit menschlichem Leben verbunden sind. Daher kann es sehr nützlich sein, die Kairos-Logik des Lebens selbst besser verstehen zu wollen.
Karl Hofmann