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Lasst uns nach Bethlehem gehen …
Lukas 2,15
Wem ist es schon aufgefallen, dass zwei Evangelisten hinsichtlich Weihnachten eine narrative Arbeitsteilung gemacht haben? Lukas erzählt von den Hirten, die das Kind in der Krippe bestaunen. Matthäus lässt Magier bzw. Könige aus dem Morgenland ihre Gaben bringen. Ein einziges Ereignis, von zwei wesentlich verschiedenen Seiten her betrachtet: von unten und von oben. Aus der Perspektive von Menschen, die ihr einfaches Leben leben, und aus der Perspektive von Menschen, die eine bedeutende geschichtliche Stellung innehaben.
Kairologisch gesprochen: in einem Punkt (Jesuskind) vereinen sich mikro- und makrohistorische Bewegung. Symbolisch. Der Gedanke lässt sich weiter entfalten: Jeder von uns geht den Weg seiner Kairos Lebensphasen. Jeder von uns ist Teil eines geschichtlichen Prozesses. Jedes Leben ist individuell und kollektiv, persönlich und sozial. Es kennt einen eigenen Geist und so etwas wie einen Zeitgeist.
Das Bewusstsein dieser Polarität zeigt sich in vielen Gestalten. Das Christentum unterscheidet zwischen Christus und Jesus, die Wissenschaft zwischen Geschichte und Biografie, die Autowelt zwischen Autofahrer und Verkehr, die Mathematik zwischen Integral und Differenzial, die Esoterik zwischen dem Großen und dem Kleinen …
Wie aber sind beide Pole genau aufeinander bezogen? Die einen sehen den Zeit-Geist als Summe dessen, was viele Menschen empfinden. Andere sehen ihn als eine vom Menschen unabhängige Qualität, die als Vorsehung oder Schicksal oder historische Gesetzmäßigkeit gedeutet wird und der jeder Mensch, ob er will oder nicht, unterworfen ist.
Nach Jahrzehnten, in denen die Menschen den Weltenlauf eher als Produkt der Ideen, Gefühle und Leistungen von Menschen gedeutet haben, hat sich offenbar der Wind gedreht. Im Vordergrund steht jetzt ein objektiver Anspruch an alle, der sich in einer Reihe von Dogmen vergegenständlicht. Es wird wieder zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterschieden. Der Eindruck wird vermittelt, dass es einen höheren Willen gebe, dem sich alle unterwerfen müssen. Wer es nicht tut, wird mit dem Recht verfolgt oder verliert Arbeit und Position. So wertet zu ihrer Zeit auf vielerlei Weise die eine die andere Seite ab.
In beiden Fällen ignoriert man ein ungeheures Problem. Es ist gleichsam ein namenloses Problem, obgleich es klar und genau allgemein bezeichnet werden kann. In der Geschichtswissenschaft heißt es der Zeitgeist, eine Größe, der man durch keine Messung restlos beikommen kann. In der Psychologie heißt es das Irrationale, Intuitive, Kreative. Die besten Geister ringen seit Jahrhunderten damit. Wie genau verhält sich das eine zum anderen?
Angesichts dieses scheinbar unlösbaren Problems müsste jeder staunen über das, was ihm holzschnittartig auf einer Kairosuhr gezeigt wird. Die wenigsten tun es. Dabei wird hier einem nicht nur gesagt, dass das Große der Geschichte dem kleinen menschlichen Leben entspricht, sondern wie das der Fall ist. Vielleicht denken manche: Ein netter neuer Versuch der Kairologie, ein unlösbares Problem zu lösen. Ehren wir den, der sich soviel Mühe dafür gegeben! Wir stellen es am besten neben die anderen Werke, in denen es versucht wurde.
Wen die Frage nach dem ureigenen Sinn im Ganzen aber noch bewegt, der bleibt nicht kalt davor stehen. Er wird zuerst staunen. Und dann viele Fragen stellen. Und aus den Antworten die Gewissheit gewinnen, einen einmaligen Platz in einem größeren geschichtlichen Ganzen einzunehmen.
Ihm wird wohl gleichzeitig eine doppelte Relativierung bewusst. Die Dogmen von heute sind nicht so absolut, wie sie von sich selbst behaupten. Sie sind dem historischen Kairos unterworfen. Genau so wenig erhalten die Fakten, Einbildungen, Gefühle und eigenen Leistungen von sich aus schon den Sinn, den man ihnen zuschreibt. Vielmehr sind sie darauf bezogen, inwiefern einer dabei auf seinen Kairos geachtet hat, der ihn auf ein größeres Ganzes bezogen sein lässt.
Jeder von uns ist Hirte und Magier. Die Einheit beider liegt in einem Dritten. Wir haben alle unser Bethlehem.
Karl Hofmann