Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist.
Meister Eckhart
Stellen wir uns einmal einen Menschen vor, der ganz aus dem Kairos seines Lebens fühlt, denkt und handelt. Wie das konkret aussieht, ist wohl schwer zu fassen. Aber vielleicht gelingt uns eine kurze Skizze. Ein solcher Mensch wäre, wie jeder von uns sein soll.
Ich glaube, er hätte Eltern, die selbst schon ganz dem Kairos hingegeben waren. Sie wissen, dass das Eigentliche ihres Kindes nicht durch sie selbst kommt, sondern Ausdruck einer Kraft ist, die bis zur Erde, bis zum Himmel und bis zum Horizont der ganzen menschlichen Geschichte reicht.
Ihr Kind wächst wie jedes auf und lernt, seinen Lebensraum entsprechend seiner inneren Kraft zu erweitern. Es lernt aus einer Fülle des Urvertrauens über Mama und Papa und andere Erzieher den Glauben an Wahrheit, Gerechtigkeit, Schönheit und Vernunft.
In dieser seiner Festigkeit fordert es in der dritten Kairos Lebensphase frühzeitig und selbstbewusst seine Lehrer heraus. Nicht um sie einfach zu kritisieren, sondern ihre Lehren auf ihre Vernunft hin zu prüfen, um das persönlich anzunehmen, was dabei Bestand hat.
Dann beginnt es auf der Suche nach dem wahrhaftigen Leben das Leben derer zu erproben, die behaupten, es zu besitzen. Es geht hier um Mann und Frau in gleichem Maße. Nehmen wir an, dass es ein junger Mann ist, der nun bereit ist, die härtesten Prüfungen seines Wesens auf sich zu nehmen, sich in die Schriften und Angebote anderer zu vertiefen. Gleichzeitig erprobt er, wie er für sein Leben selbst sorgen kann.
Mit etwa 30 Jahren wird in ihm die eigene Berufung aufleuchten. Ihm wird bewusst, dass er ganz seinem Kairos treu bleiben will. Er ist gleichzeitig konfrontiert mit den Versuchungen der Welt: dem Angebot einer außergewöhnlichen Karriere, einer großen Machtposition, der Möglichkeit eines vielfältigen Einflusses auf die Gesellschaft oder vielleicht auch die Chance, die reine Liebe einer Frau zu gewinnen. Doch er wird all dies verwerfen, sofern es ihn von der Ausrichtung auf seinen Kairos abtrennen würde.
Vielmehr ist es sein erstes Verlangen, sich mit Menschen zu verbinden, die sich ganz am Kairos orientieren wollen. Und so gewinnt er Menschen, die unmittelbar spüren, dass er sie auf eine höhere, ihnen bisher unbekannte Ebene führen kann. Sie alle nehmen innerlich Abstand von dem, was sie zu haben glauben. Nun zeigt er ihnen, wie sich die enge Verbindung mit Kairos praktisch kreativ umsetzen lässt. Kairos erweckt Menschen, die innerlich schon fast tot sind, wieder zum Leben. Kairos macht Menschen, die bisher blind waren für die eigentliche Wirklichkeit des Menschen und seine energetischen Prozesse, wieder sehend. Kairos bringt Menschen, die innerlich krank und lebensmüde waren und die sich ohne Kraft fühlen, wieder zurück ins Leben.
Dann fängt er an, eine geordnete Gemeinschaft aufzubauen. Mit den Frauen und Männern, die wie er etwas Neues schaffen wollen, entwickelt er Pläne und Projekte. Er denkt an eine von Kairos geprägte Gesellschaft. Dort soll die gemeinsame Vernunft das Maß des Handelns sein. Das gesteigerte Kairos Bewusstsein hilft, wahrhaftige und heuchlerische Gedanken zu unterscheiden. Dort soll nun aber auch strukturiert und nicht bloß intuitiv vorgegangen werden. Sein Kairos sagt ihm, dass es jetzt sinnvoll ist, eine Regel für die Gemeinschaft zu entwerfen.
Für manche der Freunde wird es zu mühsam. Denn es kommt der Tag, da er jeden einzelnen in seine einmalige Verantwortung ruft. Wer ganz im Kairos lebt, will nichts für sich, keinen Reichtum, keinen hohen Posten, keine nur geschlechtliche Liebe, keine Habe, die es zu verteidigen gilt.
Sein Kairos sagt ihm, dass es nicht sinnvoll ist, irgend jemanden zu etwas zu zwingen. Wer an dieser Stelle Abstand nehmen will, den verabschiedet er freundlich. Jeder soll tun, was seiner Kraft entspricht. Er selbst bleibt innerlich unabhängig. Er weiß, jetzt ist die Zeit, sich für größere Aufgaben verantwortlich zu fühlen, auch nach außen aufzutreten. Dazwischen aber muss immer Zeit sein, den Ruf und die Kraft seines Kairos wahrzunehmen. Er bestimmt die Grenzen seines Handelns
Dann kommt die Zeit, in der er spürt, dass er darüber hinauswachsen muss. In all seiner Zugewandtheit hat er doch lange als Mann gefühlt und gehandelt. Auch seine Spiritualität und Wahrnehmung des Kairos waren männlich. Kairos aber ist weder männlich noch weiblich. Er ist beides. Und so fängt er an, zu den Ursprüngen zurückzukehren und beides in sich wieder zu vereinen.
Zugleich wird ihm bewusst, dass er sich genauso lösen muss von all dem, was ihm vertraut ist. Weiter schauen, geschichtlicher denken. Es geht bei Kairos nicht nur um ihn und seine Gemeinschaft. Es geht um alle. Die Aufgabe ist, alle Menschen hinzuführen zur Wirklichkeit des Kairos. Wie ist das möglich? Das beschäftigt ihn tief in seinen Fünfzigern.
Nun verkündet er: du darfst auch Vertrauen haben in das Große der Geschichte. Auch sie ist, ob sie will oder nicht, kairosorientiert. Die kreativen Ideen wie auch die Katastrophen haben ihren genauen Platz und Sinn im Ganzen. Auch seine Art des Kairosbewusstseins hat die Aufgabe, für sich die Beschränkungen der langen eigenen kulturellen Entwicklung anzunehmen. Es wird ihm nun immer bewusster, wie großartig es ist, dass andere Kulturen dazu noch ganz andere Bilder entwickelt haben. Sich dafür zu öffnen, sie zu sehen und zu würdigen, ist seine nächste Aufgabe, die ihm Kairos nahelegt.
Wie geht es weiter nach ihm? Wer in der nächsten Generation ist vom gleichen Geist des Kairos beseelt? Mit diesen Fragen sucht und findet er Menschen, die übernehmen. Dieses Freimachen aber dient nicht dazu, sich von Kairos zu lösen oder damit anzufangen zu privatisieren. Kairos ist immer und führt ihn zu neuen Höhen des Mitteilens.
Irgendwann verschwindet auch dieser Kairos-Mensch aus der Geschichte. Er wird vielleicht erinnert als einer, der gelebt hat, wie Menschsein gelebt werden will, nämlich ganz in der, aus der und für die Kraft des Kairos. Und diese lässt ihn – im Sinne von Meister Eckhart – immer wieder lassen, was er gerade jetzt ist. Denn auch der Weg aller im Einzelnen und der Menschheit insgesamt ist nichts anderes als die mehr oder weniger gut gelöste Aufgabe, im Kairos die Lebendigkeit menschlichen Lebens zu leben.
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Eine abschließende Anmerkung
Pause nach 52 Kairos Inspirationen
Es waren nicht nur kurze Sprüche, sondern manchmal lange Gedanken zu unserem Menschsein heute. Zusammen fast ein eigenes Buch. Ich startete leichtfüßig. Zwischendrin wurde es auch zum Marathon. Es gab Wochen, die sonst auch ausgefüllt und anstrengend waren, und nicht ständig so kreativ. Trotzdem war es mir immer ein Anliegen, jedes Mal über die üblichen Denkweisen hinauszukommen, die Kairos Bedeutung anzuvisieren. Versprochen war versprochen. Manchmal erinnerte ich mich tatsächlich an meine beiden Marathonläufe und wie sie meine Willenskraft mit 47 und 50 Jahren erfolgreich zu Ende brachte.
Ich danke allen Abonnenten für das Mitgehen, Mitdenken, auch für die Rückmeldungen.
Abschließend lade ich herzlich ein zu meinem neuen online Seminar „Macht und Zeit“. Das Thema ist mir gerade in seinem Kairos Bezug ein großes Anliegen. Wer verstanden hat, wie anders manchmal kairologische und kairosophische Reflexionen aussehen, wird vieles erfahren, was er anderswo nicht finden kann.Es ist darüber hinaus brandaktuell. Es ist nicht nur interessant, Macht-Phänomene unserer Zeit tiefer zu reflektieren. Es ist meiner Ansicht nach auch existenziell notwendig, sich in dieser Zeit wesentlich zu orientieren. Ich freue mich über alle, die dabei sein wollen.
Ab 27. Februar! Weitere Informationen über den jüngsten Newsletter oder die Webseite. Anmeldungen unter info@kairologisches-institut.de
Bitte beachten: In der Ankündigung vom 21. Januar stimmte die angegebene IBAN nicht. Richtig heißt es: Überweisung an: Institut für Kairologie, Stichwort: Macht und Zeit IBAN: DE64 7509 0300 0100 2000 69
Karl Hofmann