Kairos Inspirationen 2025/#51 – 19. Januar 2025

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Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist der Menschheit Krone zu erringen, nach der sich alle Sinne dringen?

 

Goethe Faust I

 

Wir haben, soweit möglich, die Unendlichkeit auf die Erde geholt. Un-endlich bedeutet, dass sie sich den Sinnen entzieht. Nichtsdestotrotz ist sie real.

Ich werde zum Beispiel am Handy nicht nur allgemein mit dieser unendlichen Wirklichkeit verbunden, sondern die Texte und Bilder von Nachrichten erscheinen real am Display oder mir wird zumindest angezeigt, dass sie da sind und in welcher Menge. Die Unendlichkeit hat gewissermaßen aber nicht nur eine individuelle Erkennbarkeit, sondern da ist noch ein drittes. Es ist eine gemeinsame erfahrene Unendlichkeit. Es gibt eine mobile Infrastruktur des unendlichen, einen Telekommunikationsraum, der ständig erzeugt wird.

 

Woher aber kommt eine solche Dreieinigkeit des Unendlichen? Ein großes Rätsel! Lange bevor es so real wurde, war es in den Köpfen, den Träumen und Sehnsüchten da. Ein Werner von Siemens, der die ersten Telegrafenleitungen legte, ein Edison oder Bell, die sich am ersten Telefon abarbeiteten, ein Zuse, der den modernen Computer erfand. Was trieb sie? Jeder tat etwas anders, aber alle strebten nach demselben: den Himmel auf die Erde holen, „der Menschheit Krone zu erringen“. Das Endliche, Beschränkende, Schwere, Mühsame überwinden.

 

Der Traum ist älter. Schon Goethe hat ihn vor Augen, wenn er schreibt, wie in ihm beim Anblick von Adlern und Kranichen eine tiefe Sehnsucht erwacht. „… Ach zu des Geistes Flügeln wird so leicht kein körperlicher Flügel sich gesellen. Doch ist es jedem eingeboren, dass sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt, …“ (Faust I).

 

Fast 250 Jahre später können wir mit dem Auge dem ganzen Lauf der Sonne durch den Tag und die Nacht folgen. Unsere Medien ermöglichen uns heute eine nahezu universale Vergegenwärtigung von allem, was geschieht. Wie die Menschen des Mittelalters in den Domen von Fenster zu Fenster wanderten und sich nicht satt sehen konnten an überirdischen Glasbildern und -geschichten, so zappen wir uns durch eine Fülle von Programmen am Fernseher oder Handy, und vergessen darüber die Zeit.

 

Diese Analogie ist nicht zufällig gewählt. Wir sind in unserem geschichtlichen System, das stets den Himmel auf die Erde holen wollte, jetzt, 2025, genau dort, wo unsere Vorfahren um ca. 1240 waren. Die damaligen Rundfunkanstalten waren die Kathedralen. Das damalige Internet war die gemeinsame geistliche Welt, eine Verbundenheit in einem Glaubensraum, an dem man so wenig zweifelte wie wir an der Existenz unseres weltweiten Telekommunikationssystems. Wie Goethe schon auf dem Weg zur realisierten Aufhebung aller Beschränkungen war, so war schon ein Anselm von Canterbury im elften Jahrhundert mit seinem Credo quia absurdum auf dem Weg zur Herrlichkeit der Kathedralen.

 

Wie ist es möglich, dass ein und dieselbe Idee einen tausendjährigen Weg zusammenhält? Die Idee, über das Unendliche zu verfügen. Woher kam dieser innere Druck, für den die Mönche sich aus der unmittelbaren lebendigen Natur zurückzogen in kalte und graue Wände von Klöstern und Kirchenräumen? Was trieb einen Faraday, eine Marie Curie, einen Tesla, einen Röntgen in die Einsamkeit der Labore, während draußen das bunte Leben an ihnen vorbei zog? Was beglückte sie dabei, während sie sich Gesundheit, Beziehungen und Leben ruinierten?

 

Über alle individuellen Motive und Verhältnisse hinaus verband sie ein unstillbarer Drang. Ein fast absoluter Drang nach Freiheit. Freiheit von Beschränkung, Freiheit von der Relativität des Lebens. Faraday wollte die Kraft der Elektrizität beherrschen, Curie die von sich aus leuchtende Energie, das Radium, nachweisen, Tesla die autonome Technik entwickeln, Röntgen das Unsichtbare sichtbar machen. Jeder etwas anderes, aber alle auf den einen fernen Punkt ausgerichtet: auf das Unendliche, das Unfassbare, das Göttliche der Natur, dessen man habhaft werden wollte. Sie glaubten alle, dass es möglich sei. Es bedarf nur einer großen gemeinsamen Anstrengung. Zuletzt wird möglichst vielen alles Schwere abgenommen sein. Dann nämlich, wenn die Energie der Natur uns dienen wird.

 

Sind wir nun fast dort, wo wir ankommen wollten? Fühlen wir diese himmlische Erfüllung? Oder …? Hat sich dieser Weg gelohnt? Ich glaube, es ist eine sinnlose Frage. Ein Teil der Menschheit hatte diese und keine andere unbewusste kollektive Berufung. Er hat sie in verschiedenen Varianten realisiert. Heute brennt nur noch in wenigen genau dieses Feuer. Diese Wenigen träumen noch von einer absoluten Autonomie. Die meisten von uns profitieren von den Ergebnissen, sehen aber gleichzeitig, wie sich die erträumte Freiheit in neue Gefängnisse verwandelt. Die besten spüren vielleicht auch noch etwas von der Tragik, die diese ungeheure Anstrengung durchzogen hat.

 

Karl Hofmann

 

Bitte vormerken:

„Macht und Zeit. Die Weisheit der menschlichen Lebenskräfte“. So lautet der Titel des neuen mehrteiligen online-Seminars, das am 27. Februar 2025 starten wird. Darin werde ich auch genauer auf die Lage 2025 eingehen. Weitere Informationen dazu in Kürze.

 

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