Kairos Inspirationen 2024/#36 – 6. Oktober 2024

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Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.

 

Ludwig Wittgenstein

 

Naturgemäß geht es in den Kairos Inspirationen um Kairos, die bedeutungsvolle Zeit. Aber wie wird dieses Wort wann gebraucht? Anders gefragt: um welches Kairos Verständnis geht es uns dabei? Wenn wir sagen, dass alles seine Zeit hat, dann wäre es widersinnig, hier zu behaupten, eine objektive überzeitliche Wahrheit zu besitzen.

 

Wir dürfen uns daran erinnern, dass auch wir selbst Teil eines bestimmten geschichtlichen „Sprachspiels“ (Wittgenstein) sind. Kein Begriff kommt ohne ein solches aus. Und jedes Sprachspiel ist letztlich Ausdruck eines bestimmten geschichtlichen Lebensspiels.

 

Ohne Zweifel gelten die kairologischen Zeiteinheiten und Entfaltungsmuster für alle Menschen bzw. kulturellen Systeme. Aber daraus folgt nicht, dass alle Menschen diese so in seiner Bedeutung wahrnehmen könnten. Zwar kann ich bezeugen, dass in der Gegenwart nicht wenige Menschen fähig sind, solche Erkenntnisse für bedeutungsvoll zu halten. Und wer im Internet schaut, wird entdecken, dass das Interesse an dem Thema Kairos stark zunimmt. Aber hat die Bedeutung, die dieser Begriff bei uns jetzt gewinnt, viel zu tun mit dem, was er im antiken oder frühchristlichen Sprachspiel bedeutet hat?

 

Lasst uns der Frage kurz nachgehen. Kairos ist in der griechischen Antike der jüngste Sohn des Zeus, also ein Gott des Augenblicks, ein Moment der Gegenwart in seiner Bedeutung. Wenn wir von bedeutungsvoller Zeit reden, ist das also im antiken Sprachspiel ein Gott. Überall, wo es gilt, gegenwärtig zu sein, ist er im Spiel. Wie auch das sonstige antike Denken nicht räumlich, sondern gegenständlich, punktförmig ist, so auch das Verständnis von Kairos. Man fragt nicht nach der Ordnung des Kairos, sondern bleibt beim Bewusstwerden des Augenblicks.

 

Ganz anders ist die Sichtweise von Kairos im Neuen Testament, der dort über 70 Mal vorkommt. Von Kairos ist die Rede, wenn es um die geschichtliche Zeit Gottes geht. Kairos ist bezogen auf das, die ganze reale Geschichte durchziehende Fluidum des göttlichen Plans. Gott hat hier einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende gesetzt. Im Judentum wird es vorgestellt im Erscheinen des Messias, im Christentum als Wiederkunft Christi. Es ist hier undenkbar, die Zeit zurück und nach vorne ins (nahezu) Unendliche auszudehnen. Innerhalb des vorbestimmten Weges haben auch die Völker (ethnoi) ihre eigenen kairoi (siehe zum Beispiel Lukas 21,24). Doch in allen Fällen ist mit dem Anfang der Zeit schon das Ende gegeben. Jeder Punkt ist dieser göttlichen Zeitordnung unterworfen und nur von da her zu sehen und zu erleben.

 

Das lateinische Sprachspiel hat sich von der göttlichen Tiefe des Kairos schon so entfernt, dass es dafür nicht einmal ein Wort hat. Die lateinische Bibelübersetzung identifiziert somit Kairos mit Tempus oder Tempora. Entsprechend wird auch in der aktuellen deutschen Einheitsübersetzung Kairos mit Zeit oder Zeiten übersetzt. Dadurch verschwindet seine tiefere Qualität.

 

Das Mittelalter war sich noch bewusst, dass die Zeit grundsätzlich erst aus der Beziehung zu Gott und seiner Schöpfung erwächst. Die Renaissance wusste noch um den Kairos als ein Phänomen, das in Beziehung zur sinnvollen Sternkunde, der Astrologie, stand. Je mehr dann die leere, für alles offene Zeit im Ticken von Uhren gesehen und gehört wurde, desto mehr entleerte sich auch der Bezug von Kairos zum Gesamtzusammenhang des schöpferischen menschlichen Werdens. Kairos wurde zur günstigen Gelegenheit, zum Glauben an einen Vorteil, den man nach Möglichkeit nicht versäumen sollte.

 

Wir sind dabei, Kairos für uns neu entdecken. Das heißt auch, ihn wieder in die Mitte des abendländischen Sprachspiels zurück zu holen. Dabei ist die Frage, ob dieser Kairos nun als Gott oder als Ausdruck einer göttlichen Geschichtsbestimmung verstanden wird, für unseren Sprachgebrauch zweitrangig.

 

Wenn Chronos die Funktion der messbaren, vom Menschen wahrgenommenen Bewegung der sichtbaren Realität ist, dann ist Kairos die Funktion der energetischen Bewegung der vom Menschen wahrgenommenen Welt. Was hier mit energetisch gemeint ist, drückt sich am besten in dem Wort Bedeutung aus. Bedeutungsvoll kann für uns ein Zeitpunkt nur sein innerhalb einer Dynamik, die Anfang und Ende auf vielen Ebenen hat. So gebrauchen wir Kairos in einer sinnvollen und erhellenden Weise.

 

Karl Hofmann

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