Kairos Inspirationen 2024/#33 – 15. September 2024

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Den „Kairos“ zu finden, das ist eine Form der Weisheit.

 

Frieder Lauxmann

 

Jeder von uns kann den Kairos auf verschiedenen Ebenen erfahren. Zunächst wird er als unmittelbarer schöpferischer Anspruch erlebt. So hörst du beispielsweise einen inneren Anruf im Hier und Jetzt. Es ist der schöpferische Augenblick einer Gewissheit, der Entscheidung, des Handelns. Es sind jene „Sternstunden“, in denen sich manchmal die Kraft und Bedeutung eines ganzen Lebens oder einer Epoche zusammenballt. Wer in einer solchen Situation seinen Kairos zulässt, gewinnt Großes.  Wer zögert oder weghört, verliert die Kraft.

 

Kairos kann auch als Harmonie schöpferischer Schwingungen von Menschen, Gruppen Völkern wahrgenommen werden. Jeder von uns kann erleben, wie es Zeiten maximaler schöpferischer Kraft und ebenso „Wellentäler“ gibt. Wir erleben auch, wie der Drang, ein Problem zu lösen, von innen her zu- oder abnimmt, sich für eine gewisse Zeit alle Kraft darauf konzentriert. In ähnlicher Weise wachsen makrohistorisch zu bestimmten Zeiten Spannungen, sodass immer mehr Menschen von einer Art Fieber, einer kollektiven Bereitschaft zu etwas, erfasst werden können.

 

Kairos kann auch als die Einheit eines geistigen Raumes erfahren werden, in dem sich die Wirklichkeit ordnet. Er ist der energetische Kern jeder echten Aufgabe, ordnet sie ins Ganze ein, gibt ihr die rechte Zeit und Bedeutung. Ein Gedanke, ein Buch, die Organisation einer Firma können einen Kairos ausdrücken, sofern all dies optimal gelungen, maximal auf ein Ziel hin geordnet ist.

 

Zuletzt kann sich die Wirklichkeit des Kairos für uns in dem zeigen, was als Objektivität der Welt wahrgenommen wird. Hier erscheint der Kairos nicht mehr als flüchtiger Augenblick, sondern als sein Gegenteil, als unveränderbare Dauer. Kairos scheint aus dem Bewusstsein verschwunden zu sein, wenn es um das geht, was gerade fraglos als Tatsache oder „Objektivität“ anerkannt ist.

 

Kairos kann sich also sehr vielfältig offenbaren. Doch Vorsicht! Hier ist ständig die Rede vom „kann“. „Kann“ und „ist“ aber liegen häufig, ja meist auseinander.

 

Unser Problem sind die Vorstellungen und Bilder, die wir uns von allem machen. Jedes Bild, jeder Begriff verfestigt. Natürlich kommen wir den Bildern, der Sprache, den Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft nicht aus. Kairos aber verlangt, sie wieder loszulassen.

 

Da trifft eine Frau einen Mann. Sie entbrennt. Er scheint allen Vorstellungen eines idealen Partners zu entsprechen. Sie fixiert sich darauf. Jahre später erkennt sie enttäuscht, aber auch nüchtern: Die lebendige Bewegung des Lebens und seines Kairos war weitergegangen. Ihr Bild war stehengeblieben. Der Anruf des Augenblicks war weder bei ihr noch bei ihm verbunden mit der Offenheit der Bewegung. Früher oder später bricht solche Fixierung zusammen. Gewöhnlich unter großen inneren oder äußeren Schmerzen. Kaum jemand ist zunächst dankbar für solche Ent-Täuschung. Obwohl der Zusammenbruch hier gerade von der Täuschung befreit hat.

 

Nicht anders ist es, wenn jemand ein Buch schreibt und darin das Schöpferische seines Hier und Jetzt ausdrückt. Er glaubt fest, dass das Geschriebene auf Dauer und für alle oder viele gilt. Und stellt schließlich fest, dass der lebendige Zeit-Geist einfach darüber hinweg geht. Statt sich zu freuen, einen Moment in einer lebendigen Bewegung des Zeit-Geists dargestellt zu haben, ist er meist enttäuscht über den Zusammenbruch seiner Erwartungen.

 

Wer für sich den Kairos findet, und das hoffentlich immer wieder, hat also für sich „der Gottheit lebendiges Kleid“ (Faust I) berührt. Wir dürfen nur nicht glauben, dieses Lebendige des Menschseins festmachen zu können über unsere Vorstellungen. Den Kairos zu finden ist weise. Es bedeutet, einen tieferen Zugang zu unserem Leben gefunden zu haben. Es bedeutet aber auch, bereit zu sein, ihn wieder loszulassen, sich der Wandlung zu überlassen, die nicht von meinen Wünschen, sondern vom Kairos selbst ausgeht.

 

Karl Hofmann

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