.
Das Leben gehört dem Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefasst sein
Johann Wolfgang von Goethe
Du kannst dir immer einen bestimmten ideellen Horizont erwerben. Er enthält deine Ziele, deine Werte, deine Ideen für die Zukunft. Mehr oder weniger deutlich entwickeln wir Bilder von guten Beziehungen, Familie, Arbeit, Autorität, Ländern … Was allerdings seiner eigenen Lebenszeit-Logik folgt, ist die Entwicklung der Bedeutung dieses Horizonts.
In der Zeit deines Werdens (Kairos Lebensphasen 1-4, bis ca. 25 Jahre) sind solche Bilder Ausdruck deines Wegs in die Welt. Du sammelst sowohl Kraft für die Idee selbst als auch für die Abgrenzung zu anderen.
Dann kommt das Lebensalter des Aufbaus, wo du in und mit deinem Verständnis arbeiten willst. Es geht nicht mehr darum, welchen Platz deine Ideen in dir haben, sondern welchen sie im lebendigen Schaffen deiner Welt im Rahmen der aktuellen Gesellschaft bekommen. Du benutzt also deine Vorstellungen, um Raum und unmittelbare Anerkennung, zum Beispiel über Bezahlung, zu erhalten.
Erst im Lebensalter des Bewahrens, ab den fünfziger Jahren, wird allmählich deutlich, welche Bedeutung der ideelle Horizont im größeren Kontext wirklich hat. Wie sehr drängt es dich, die damit verbundenen Wunschvorstellungen auf Dauer zu verankern in dem Lebens- und Kultursystem, zu dem du gehörst.
Wer etwa mit 60 bereit ist, Direktor eines Gymnasiums zu werden, der schöpft seine Motivation nicht mehr aus der Funktion, die man auf diese Weise erhält, sondern ihm oder ihr ist der Stil, in dem miteinander gearbeitet und umgegangen wird, so wichtig, dass man dafür die erhöhte Verantwortung und Mehrbelastung gerne noch auf sich nimmt. Am Ende scheidet man vielleicht mit der Hoffnung, für eine gewisse Zeit gezeigt zu haben, dass und wie es auch anders geht. Und vielleicht kommt noch hinzu, das eigene Muster an einige andere Lehrkräfte bzw. Schüler weitervermittelt zu haben.
Wesentlich relevanter als dieser Spezialfall ist für viele sicher das, was ich hier Familiensinn nenne. Diese Sinnausrichtung des Lebens wächst in jedem von uns über verschiedene Ebenen des Werdens bis etwa 25 Jahre. Schon früh klärt sich im Unbewussten, wie jemand zum Leben überhaupt steht. Wie sehr bejahe ich menschliches Leben in seiner Eingebundenheit in ein größeres Ganzes, das es zu erhalten gilt? Danach wächst in uns mehr oder weniger stark der Glaube, dass bestimmte Werte es wert sind, dafür Arbeit und Verantwortung zu übernehmen. Daraufhin gilt es, die Kraft zu erwerben, grundlegende persönliche Konflikte auszuhalten und das Vertrauen zu entwickeln, sie lösen zu können. Schließlich verbindet sich der Familiensinn mit dem Vertrauen, die damit verbundene und daher wohl zu erwartende Arbeitslast des Tages tragen zu können.
Dann kommen mehr als 25 Jahre, in denen all diese Kräfte nach Umsetzung und Bewährung verlangen. Die vorhandenen Kräfte schaffen sich die Formen, die ihnen tatsächlich entsprechen.
Manche fühlen sich blockiert, ihrem Familiensinn eine sichtbare Gestalt zu geben. Diese Blockade kann sich tausendfach rechtfertigen. Das Gegenüber passte nicht, die Zeit fehlte, die Gesellschaft, die Eltern, das Geld, der Ort …
Wer tatsächlich startet, stößt bald auf die nächste Problemebene. Welchen Stellenwert hat für mich bzw. für den Partner das Kind, die Familie, die Erziehung, die Welt der Werte? Dieses Ringen wird dann noch überwölbt durch die Frage nach der Würdigung des eigenen Ich durch den anderen. Ist auch jetzt, wo vieles an Kommunikation aussichtslos erscheint, der Familiensinn stärker? Ist diese Ebene bewältigt, bleibt noch die Frage nach dem Ja zur täglichen, die körperlichen und seelischen Kräfte bis zum Äußersten fordernde Arbeit in, mit und für die Familie. In dem, was tatsächlich gedacht, gefühlt, getan wird, zeigt sich der Bedeutungsweg des Familiensinns.
Ab Kairos Lebensphase neun (52-58 Jahre) wandelt sich die Bedeutungsqualität des Familiensinns. Der Abstand aller Beteiligten dazu wächst. Das heißt aber nicht, dass er von allen auch bejaht wird. Die einen klammern, die anderen werden noch umklammert. Und wieder gibt es 1000 Gründe dafür, nicht loszulassen. Viele aber verwandeln sich nun doch aus Vätern und Müttern zu Großvätern und Großmüttern.
Die neue Ebene lässt sich aber auch bewusster betreten. Manche fangen an, ihren eigenen Weg mit dem Familiensinn zu reflektieren und zu werten. Sie sehen, wie viel davon der eigenen Herkunft, den Vorurteilen und Einflussnahmen der Gesellschaft geschuldet war, wie sehr die nächsten Generationen wiederum ihre eigenen Wege gehen (müssen). Einige wenige gelangen hier nun bis zu der inneren Freiheit, das Ganze in seiner Stückhaftigkeit, Schuldhaftigkeit, Vergeblichkeit bejahend sein zu lassen. Viele ringen mit ihrem Verhältnis zu dem, was aus ihrem Bemühen geworden ist, bis zum letzten Tag. Und einige von ihnen reichen den inneren Unfrieden noch an die nächste Generation weiter.
Eine beispielhafte Wegzeichnung! Denn wie sich die Idee des Familiensinns über viele Lebensphasen hinweg in ihrer Bedeutung wandelt, so gilt das auch für alle anderen „Ideen“, die mit menschlichem Leben verbunden sind. Daher kann es sehr nützlich sein, die Kairos-Logik des Lebens selbst besser verstehen zu wollen.
Karl Hofmann