Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist…“
Kinderspiel
Kairos Inspiration vom 21. 4. 24
Was würdest du mir antworten, wenn ich zu dir sage: Ich wüsste so gern, wie es gerade jetzt in Kiew am Maidanplatz zugeht oder in Berlin am Brandenburger Tor. Du würdest wahrscheinlich dein Smartphone herausholen und mir die dort ständig installierte Videokamera zeigen. Voraussetzung: du kennst dich etwas mit deinem Gerät und dem Internet aus.
Ist dir bewusst, dass deine Antwort vor über 100 Jahren ungeheuerlich gewesen wäre. Die Relativitätstheorie wurde als Unsinn, die Quantenmechanik als esoterische Physik abgetan. Jetzt würde sich keiner wundern und ich würde vielleicht selbst abwinken und sagen, ich habe es mir schon angeschaut.
Wandeln wir das Spiel ab. Du drehst den Spieß um und sagst zu mir: Du beschäftigst dich doch mit der bedeutungsvollen Zeit, dem Kairos: Ich wüsste so gern, warum eine Merkel so und nicht anders agierte, wo wir heute in der großen Geschichte wirklich stehen, was es bedeutet, dass mir in letzter Zeit bei meiner Arbeit so sehr die Lust fehlt, ob mein Mitarbeiter wirklich zu mir steht oder eher am Absprung ist. Und wenn wir schon dabei sind: dann sage mir doch, wie es wirklich innerlich um meine Beziehung zu meinem Partner steht oder wann die nächste große Krise kommt.
Ist es möglich, das zu wissen? Ja, das ist möglich. Doch das, was damit gemeint ist, ist nicht leicht zu vermitteln. Viele haben hier noch den Verdacht, das sei Hellseherei, Esoterik, Einbildung. Auch vor 100 Jahren hätte ich mich im Geiste an das Brandenburger Tor versetzen können und so kann ich auch heute versuchen, mich in eine Merkel oder in eine Beziehung hineinzuversetzen, und dann meine Perspektive mitteilen. Nur – all das gilt als subjektiv.
Die Behauptung, man könnte objektiv Zugang haben, erscheint ungeheuerlich. Wenn dem so wäre, müsste man im Prinzip ja nur den jeweiligen Code wissen, um Zugang zu haben zu der Dynamik, auf die jemand bezogen ist.
Damit deute ich etwas an, was sich vielleicht so weiterführen lässt: Wer ein Smartphone in seinem Kern verstanden hat, hat auch den Kairos verstanden.
Ohne die unsichtbare Kräfte-Welt der modernen Physik würden keine Smartphones oder Computer funktionieren und ohne diese nicht die moderne Kommunikation. Ohne eine zweite Welt menschlicher Beziehungskräfte, die wir Kreativsein nennen, würde der Kairos nicht funktionieren. Und ohne Kairos würden wir Menschen nicht als Menschen funktionieren.
Im Kairos verlassen wir die Welt des Vorstellbaren und gehen in die Welt der menschlichen Beziehungen über. Wir machen das Gleiche, was wir tun, wenn wir über das Smartphone in die Welt der reinen Kommunikation und des Internets eintreten. Weder ein Dokument noch ein Foto ist auf einer Festplatte zu sehen. Genauso wenig hat bisher jemand direkt einen Kairos wahrgenommen. Erst wenn er verwandelt ist in das, was wir erleben, sinnlich wahrnehmen, für vernünftig, schön, gut, wahr halten, haben wir im Bewusstsein Zugang.
Heute ist uns klar, dass die Kernphysik und die Quantenmechanik die Natur tiefer erfasst als der Mechaniker. Genauso erfahren wir im Kairos die Welt des Menschen tiefer als durch die Beschreibung der Prozesse, in denen wir den konkreten Menschen sehen können. Je mehr und je genauer du also die verschiedenen Dimensionen eines bestimmten menschlichen Kairos erkennen kannst, desto genauer kannst du erkennen, worum es jemandem in seinem Hier und Jetzt wirklich geht, wohin seine Lebensenergie strebt.
Karl Hofmann