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Der größte Fehler, den man bei der Erziehung zu begehen pflegt, ist dieser, dass man die Jugend nicht zum eigenen Nachdenken gewöhnt.
Gotthold Ephraim Lessing
Lessing spricht eine Aufgabe an, zu der jeden von uns die siebte Kairos Lebensphase drängt. Zwischen knapp 39 und 45 Jahren sind wir von unserem schöpferischen Weg her aufgefordert, uns im Denken, Fühlen und Handeln für einen neuen Zugang zur eigenen Wirklichkeit zu öffnen.
Das Wachstum der vorhergehenden Jahre verwandelt sich in „Knospen“ neuer Weltgestaltung. Wie Apfel- und Birnbaum sich zunächst nur durch sekundäre Merkmale wie Blätter oder die Farbtöne der Blüten unterscheiden, ehe die Form der Früchte klar die Unterschiede zeigt, so tritt auch bei jedem von uns nun das in seiner Struktur hervor, was uns von anderen unterscheidet. Mein Geist drängt mich, bestimmte Strukturen gegenüber dem, was ich bisher kannte und mittrug, zu verbessern oder neu zu entwickeln.
Wer Familie hat, möchte das Familienleben nun immer mehr auf der Basis vernünftiger Vereinbarungen gestalten. Im Idealfall denkt man gemeinsam darüber nach, wie man den unterschiedlichen Bedürfnissen am besten gerecht werden kann. Das führt zu Vereinbarungen, wo vorher vor allem die Autorität der Eltern bestimmt hat.
Der innere Wunsch wächst, die Welt im Sinne bestimmter Vernunftprinzipien zu betrachten und zu formen. Dem Gestalt zu geben ist der eigentliche kreative Akt dieser Lebensphase. Das kann sich auf die Wohnung, den Arbeitsplatz, ein Unternehmen, eine vernünftigere Behandlung von Aufgaben oder auf das Bedürfnis nach einer größeren Sachlichkeit im Umgang miteinander beziehen. Du lernst nun, nicht mehr so sehr auf deine Überzeugungskraft, sondern auf die Kraft der Vernunft zu bauen. Es geht um Lösungen, denen ein Mensch, der nach- und mit denkt, eigentlich zustimmen können sollte. Du stellst die Vorteile dessen heraus, wofür du dich einsetzen willst. Du bist davon überzeugt, dass der andere es allein mittels seiner eigenen Vernunft nachvollziehen kann. Es stört dich also mehr als früher, wenn jemand darauf nur emotional reagiert oder immer nur Einzelfälle vor Augen hat.
In diesem Sinne hat nun die innere Verbundenheit mit anderen Menschen vor allem damit zu tun, wie man miteinander vernünftig umgeht. Es genügt nicht, sich gut miteinander zu fühlen oder den anderen als überzeugend zu erleben. Man wünscht sich, in einem gemeinsamen Weltanschauungsraum zu kommunizieren. Zu viel Emotionalität wie zu viel reine Sachlichkeit werden als stressig empfunden. Wo Argumente zählen und keine emotionalen Schlachten geschlagen werden, fühlt man sich wohl und mit den Menschen gut verbunden.
Wir streben in dieser Kairos Lebensphase eine gewisse Unabhängigkeit von Autoritäten an. Wir wünschen uns mehr Selbstständigkeit in unseren Entscheidungen. Wir wollen nicht mehr bloß auf eine Rolle, wie zum Beispiel das Muttersein, reduziert werden, sondern für uns auch den Raum haben, eine eigene Lebensform zu schaffen. Um die eigenen Anliegen durchzusetzen, verbinden wir uns daher nicht selten mit anderen. In dieser Zeit bereite ich also die Früchte der Substanz nach vor, die später in ihrer vielfältigen Form und ihrem je eigenen Geschmack geerntet werden können.
Die Gefahr dieser Lebensphase ist, innerlich zurückzubleiben und mit Gewalt oder aus Angst festzuhalten an dem Gewohnten und Sicheren. Oder aber schon ungeduldig den großen äußeren Erfolg zu erwarten, ehe vorher genügend die Ordnung des Ganzen studiert und gelebt zu haben.
In diesem Sinne streben wir also in dieser Lebensphase danach, zum Lehrer zu werden, der andere zum Nachdenken auffordert und ihnen hilft, neue Lösungen für alte Probleme zu akzeptieren. Oder wir ziehen es didaktisch vor, gemeinsam die Lösung zu finden. In beiden Fällen aber sind wir aufgefordert, uns erneut mit unseren Erfahrungen in der ersten Vernunftphase unseres Lebens auseinanderzusetzen, der Zeit zwischen zwölf und 19 Jahren.
Karl Hofmann