Kairos Inspirationen 2024/#38 – 20. Oktober 2024

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Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.

J.K.Rowling

 

Welches ist die wichtigste Zeit in unserem Leben? Darüber lässt sich trefflich streiten. Denn es scheint sehr von der subjektiven Wahrnehmung abzuhängen. Für manche Mutter ist es wohl die Zeit ihrer Geburt(en), ganz gleich, wann das chronologisch der Fall ist. Für manchen Mann ist es vielleicht die Zeit seiner größten Erfolge oder beruflichen Umbrüche. Für andere sind es bestimmte Erlebnisse, glückliche oder schreckliche Erfahrungen.

 

Das ist alles nachvollziehbar. Und doch möchte ich behaupten, vom Kairos her gibt es eine gewisse maximal bedeutsame Zeit und das ist die Zeit zwischen 25 und 32 Jahren. Es ist die fünfte Kairos Lebensphase. Entscheidungen, die in dieser Zeit gefällt werden, sind verbunden mit maximaler persönlicher Lebensenergie. Wir können überzeugt sein, etwas für das ganze Leben Bedeutsames zu tun. Wer in L5 wagt, wagt existenzieller als vorher und nachher.

 

Verbunden ist diese Kairos Lebensphase mit drei Wandlungen sehr grundsätzlicher Art. Zum Einen ist es die Zeit des Übergangs vom Werden zum Gestalten. Zum Zweiten ist es die Zeit der stärksten Frage nach dem, was ich persönlich wirklich glaube. Zum Dritten ist es die Zeit der wesentlichen Wandlung von Beziehungen.

 

Was hier geschieht, wird über seine ferneren Auswirkungen klar erkennbar. Die ersten vier Kairos Lebensphasen können wir die Zeit des Werdens nennen. Im Werden bin ich primär Empfangender. Ich empfange ein bestimmtes Maß an Kraft des Liebens, des Glaubens, des Hoffens und der Wahrnehmung einer Welt, die ich bejahen kann. Ich erfahre zeichenhaft, was ich kann, was mir an Temperament, Talent, Intellekt, emotionaler Kraft gegeben ist.

 

In Kairos Lebensphase 5 kommt nun aber die drängende Frage: Was will ich damit gestalten? Welche Ideen der Weltgestaltung begeistern mich? Welcher ferne Gipfel taucht vor mir auf, den ich gerne erreichen möchte? Was also möchte ich aufbauen? Eine Familie, eine Karriere, ein sicheres oder gefahrvolles Leben? Zu welcher Welt will ich gehören? Wie viel Kraft möchte ich wofür aufwenden? Fragen solcher Bedeutsamkeit kehren erst in den 50er Jahren wieder.

 

Es sind mehr oder weniger bewusste Grundentscheidungen, die ich fälle. Gerade weil mein Innen mich dazu drängt, ohne dass ich vielleicht sofort JA dazu sagen kann, wird es manchmal schmerzvoll und quälend, die eigene Richtung zu finden.

 

Wage ich loszugehen? Wenn ja, mit wem? Oder allein? Wie viele Strapazen bin ich bereit, für meine Idee von Lebenserfolg auf mich zu nehmen? Wie sehr kann ich Begeisterung für eine Aufgabe entwickeln, für einen Menschen? Wie sehr wage ich es, mich dem Risiko auszusetzen, zu scheitern? Kann ich etwas gut genug, dass ich darauf setze? Was traue ich mir an Verantwortung für das Leben, für eine Familie, für ein Team, für ein Werk zu?

 

Das sind zuerst innere Weichenstellungen, die bis zum Alter von etwa 50 Jahren die Richtung vorgeben. Sie können sich in vielen Gestalten zeigen, so zum Beispiel in der Wahl einer Selbständigkeit oder einer sicheren Stelle. Genauso in einer Hochzeit, in Kindern, in Stellenwechseln, in öffentlichen Auftritten …

 

Aber die grundlegenden Änderungen beziehen sich nicht nur auf die Art meiner Lebensentfaltung, der Bildung des für mich bedeutsamen Lebensraums. Sie beziehen sich auch auf das, was nun ich wirklich glaube. Bleibe ich bei dem, was mir die Autoritäten meiner Kindheit und Jugend an Werten, Normen, Idealen, Glaubenssätzen beigebracht haben? Oder wende ich mich davon ab? Baue ich mir eine neue Glaubenswelt auf? Was denke ich wirklich? Wovon bin ich überzeugt? Wieviel ist mir das wert, was ich für richtig halte? Oder löst sich bei genauerem Hinschauen alles auf, was ich einmal für wahr und maßgebend hielt?

 

Es sind oft schwierige Prozesse, die sich in einem abspielen. Sie haben nicht selten zu tun mit wachsender Distanz zu bisher sehr vertrauten Menschen, Gruppierungen, Ansichten. Sie führen manchmal dazu, dass neue Menschen in mein Leben treten, mich neue Realitäten begeistern und große Ideen wecken.

 

Mit all dem eng zusammen hängt auch die Veränderung meiner Beziehungen. Viele Jugend- und Studentencliquen lösen sich auf. Ich überlasse meine Beziehungen nicht mehr einfach dem Zufall oder der Gewohnheit, sondern ich wähle aus. Ich suche den Kern des anderen, die Seelenübereinstimmung, den gemeinsamen Geist.

 

Zuletzt aber sind diese verschiedenen Stränge von Kairos Lebensphase 5 zueinander ins Verhältnis zu setzen, zu gewichten. Hat zum Beispiel die Idee einer Familie Vorrang vor dem mangelnden Verständnis füreinander, das ich spüre? Hat die große Karriere Vorrang vor bestimmten Wertvorstellungen? Will ich eher kleine oder große Brötchen backen?

 

Sich in L5 seinem Kairos zu stellen, heißt also in erster Linie, sich auf seine grundsätzlichen und weitreichenden Impulse einzulassen. Oft sieht man erst viele Jahre später, welche Kairoskräfte zu jener Zeit wirklich in einem gewirkt haben. Und so kann auch ein später Rückblick wertvolle Erkenntnisse bringen, wenn es um die Frage geht, was damals wirklich in einem vorgegangen ist.

 

Karl Hofmann

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