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Es wird jedem einleuchten, dass jede Verstärkung des Strebens nach persönlicher Macht der Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls Abbruch tut.
Alfred Adler
Es ist interessant, wie im Christentum der Weg vom WIR zum ICH ging. Ursprünglich war das „WIR glauben“. Ursprünglich hieß es: „Vater UNSER“. So das einzige Gebet, von dem man schrieb, dass es Jesus lehrte. Es sind DIE Apostel als Zeichen der zwölf Stämme Israels, die Jesus umgaben. Zwar ist Petrus der Sprecher, aber er erweist sich auch als Groß-Sprecher. Er versagt jeweils wenn sein Einsatz gefragt war. Als er über das Wasser (des Lebens) laufen soll, versinkt er. Als er zu Jesus stehen soll, verrät er ihn dreimal.
Später erst erhebt sich die Kirche von Rom über die anderen. Und zwar nicht nur symbolisch, sondern sehr real. Aber wann war dieses „später“? War es wirklich schon im vierten Jahrhundert? Wirklich schon unter Pipin dem Kurzen 754 oder unter Karl dem Großen? Wirklich schon unter Otto II, der sich 962 vom Papst zum Kaiser salben ließ? Wohl noch später. Als das Abendland zum eigenen Bewusstsein erwachte und sich radikal abgrenzte zum Osten. Dort war bis 1054 der reale Schwerpunkt der Kirche. Die abendländischen Kaiser holten sich anfangs ihre Autorität durch die Nähe zu der byzantinischen Kaiserfamilie. Dann kam die erste Emanzipation, indem die Westkirche sich von der Ostkirche, einem tiefer geordneten WIR, formal trennte. Dann kam schon der erste Anspruch, die heiligen Stätten Israels nicht nur besuchen, sondern über sie verfügen zu wollen (erster Kreuzzug 1096).
Voraus ging bereits eine wesentliche Verwandlung. Man hatte begonnen, in die Liturgie das „Apostolische Glaubensbekenntnis“ einzufügen. Es fing nicht mehr mit dem „WIR glauben“ an, sondern mit dem „ICH glaube“ (Credo). Das ICH trat riesengroß in den Vordergrund des Bewusstseins.
Und so auch die Gestalt des Petrus als einzeln da stehender Fels.
Das WIR wurde zum sprachlichen Kleid, zur Formel, die noch daran erinnerte, was der Ausgangspunkt der Entwicklung war. Es hatte aber keine tiefere Bedeutung mehr.
Wieviel WIR lässt sich von einem ICH aus beherrschen? Das fragten die Bischöfe genauso wie die Fürsten. Der triumphale kirchliche Gipfel dieses ICH war Papst Bonifaz VIII. Er beanspruchte sehr real für sich die Vergabe des geistlichen und weltlichen Schwertes (1302). Der triumphale monarchische Gipfel dieses ICH war Ludwig XIV im 17. Jahrhundert. SEINE Vernunft war Versailles, war Frankreich, war Europa.
Inzwischen ist das ICH demokratisiert worden. Es geht um mein Leben, meine Rechte, meine Träume. Und wieder versuchen gewisse ICHs, die Chefs von … die Kräfte dieser Masse von ICHs abzusaugen. Sie sind dem einen, in der Spitze anonymen ICH zu unterwerfen, das die „demokratische“ Variante von Papst und Kaiser darstellt.
Von hier aus wird ein WIR erzwungen. Aber nach Möglichkeit nicht direkt. Das wäre unschön, ja geradezu primitiv. Das ICH muss schließlich in seiner ICH-Freiheit geachtet werden. Für den Zwang bleiben zwei Vorgehensweisen. Die rechtliche und die psychologische.
Die rechtliche Anordnung beruft sich auf eine rationale Repräsentation aller ICHs, so zum Beispiel über Wahlen. Die psychologische Methode beruft sich auf die wissenschaftlich durchdrungene Psyche. Indem man inzwischen zu wissen glaubt, wie sie funktioniert, ist man sich auch sicher, das Freiheits- und Unabhängigkeitbewusstsein so manipulieren zu können, wie man es braucht. Während man über die inneren Kräfte verfügt, lässt man dem Betroffenen aber natürlich den Schein, ein freies ICH zu sein.
Von außen her ist schwer zu unterscheiden, welche menschliche Gemeinschaft Ausdruck eines Willens ist und welche Funktion eines Willens ist. Bilden die ICHs ein WIR, weil in ihnen das WIR den Vorrang hat, oder ist es ein vorgegebener Zweck, der sie dazu zwingt, ein WIR zu bilden?
Die zweite Variante hat in den letzten 1000 Jahren mit immer größerer und abstrakterer Gewalt die Geschichte bestimmt. Immer noch zielt dieser Wille, der inzwischen keinen persönlichen Namen mehr hat, auf den Traum eines absolut herrschenden Imperiums ab. Aber dieser Wille wird inzwischen immer weniger vom Volkskörper getragen. Mithilfe der Gewalt von Gesetzen, Medien, Geld, Polizei und Militär wird heute versucht, diesen alles umfassenden EINEN Willen durchzusetzen bzw. aufrecht zu erhalten. Aber wenn seine Träger den Unterbau des Volkswillens nicht mehr pflegen, wenn sie dem eigenen Machtanspruch selbst nicht mehr gewachsen sind und sich in alle Arten von Blutauffrischung und Blutsaugerei flüchten müssen, verheißt dies nichts Gutes.
Wir erleben bereits, dass jene Völker aufbegehren, in denen das ursprüngliche WIR noch, oder wieder, wach und stark ist. Wann wird das funktionale WIR dem inneren WIR weichen müssen?
Karl Hofmann