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Was immer du kannst oder wovon du träumst – fange es an. In der Kühnheit liegt Genie, Macht und Magie. Beginne es jetzt sofort.
Johann Wolfgang von Goethe
Woran erinnern wir uns, wenn wir an unsere Zeit zwischen 19 und 25 zurückdenken?
Bin ich zu neuen Ufern aufgebrochen, als Student (in) oder Weltreisende(r)?
Wie erlebte ich, was man „Liebe“ nennt? War Sex primär Ausdruck von Hingabe oder Eroberung oder Mittel zu dem Zweck, jemanden zu benutzen für die eigenen Bedürfnisse?
Merkte ich einen Unterschied zur Verliebtheit der früheren Jugend?
Wie wagemutig erlebte ich mich? Habe ich Neues angepackt? Bin ich allein oder in einer Gruppe aufgebrochen?
Wie ging ich mit den sozialen oder zeitgeschichtlichen Rollen um, die mir die Gesellschaft, eine Institution oder ein Partner zuweisen wollten?
Wie sahen meine Tagträume aus? Was habe ich gefürchtet?
Die vierte Kairos Lebensphase ist kairologisch nicht ganz einfach zu beschreiben. Spätestens jetzt drängt es jedermann, seine eigenen Wege zu gehen. Im Vordergrund steht das Aufbrechen. Wanderschaft hieß das früher (Goethe, Wilhelm Meister). Ausprobieren in großer Offenheit und Risikobereitschaft, was der Staat über das Militär immer schon zu kanalisieren versuchte. Kritische Aneignung von Erfahrungen und anerkanntem Wissen und Denken. Man wird Teil einer Vielheit von Individuen. Die bisher häufig ähnlichen Wege teilen sich. Manche werden einander fremd. Am Ende zeigen sich oft sehr unterschiedliche individuelle Lebensausrichtungen.
Diese vierte Lebensphase ist die Zeit, in der ich in maximaler Weise glaube, meine eigenen, letztlich täglich revidierbaren Entscheidungen treffen zu dürfen. Ideal ist jetzt eine Freiheit von vielen Zwängen. Sie will noch nicht dauerhafte Verantwortung. Diese Freiheit steht gerade im Gegensatz zum Schicksal, mein Ich steht im Gegensatz zum WIR.
Wo bleibt die Einheit stiftende Kraft, von der wir die anderen drei Kairos Lebensphasen gesprochen haben? In der Tat tritt diese jetzt in ihrem Gegenteil auf, als faktische Gegenwart. Ich begegne erstmals persönlich der Geschichte, der Welt, wie sie gerade da steht, auf mich wirkt, mich bestimmen will. In welchem Maße kann ich JA sagen zu dieser Vielfalt? Kann ich spüren, dass das Unbewegliche in Bewegung ist? Merke ich, dass bestimmte Fakten so sind, weil jetzt oder früher dies oder jenes bedeutungsvoll war oder ist? Als Mann, als Frau erfahre ich mich jetzt als Teil einer Geschichte des Sozialen (Hausfrau oder „moderne“ Frau?, Kampfbereitschaft oder Toleranz?), des Politischen (Parteienwahl?), des Kulturellen (Ästhetik oder Funktionalität?), der Religion (Erfahrung als erfüllte oder leere Form?), …
Und noch etwas zeigt die Besonderheit dieser Lebensphase. Entfaltungsdimensionen, die sich bisher im Einklang miteinander entwickelt zu haben schienen, koppeln sich voneinander ab. Das zeigt sich vor allem in der Weise, wie die Gesellschaft uns behandelt. Einerseits werde ich gegen Ende von Kairos Lebensphase 3 als erwachsen betrachtet. Je nach kultureller Ausdeutung darf man zwischen 18 und 21 Jahren als Bürger nun seine eigenen Entscheidungen treffen. Niemand darf dich mehr daran hindern zu wählen, über dein Geld zu verfügen, zu heiraten, deinen Beruf, deine Studien zu bestimmen. Und doch bist du in einem ganzheitlichen Sinne erst mit 25 Jahren ausgewachsen. Erst dann ist auch dein Skelett endgültig ausgereift. Erst dann wird dir auch zugestanden, das zu beherrschen, was die früheren Generationen an Erkenntnis und Praxis angesammelt haben. Erst dann hast du normalerweise dein Studium abgeschlossen, kannst du Meister werden. Die Kräfte von Selbstentfaltung und Lebensentfaltung gehen ihren je eigenen Zeitweg. Dies ist im Gedächtnis zu behalten. Dadurch werden sich auch spätere wesentliche Unterschiede erklären lassen.
Karl Hofmann