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Allem Späteren liegt schon das Geheimnis der ersten neun Monate zugrunde
Herfried Münkler
Die erste Lebensphase ist für die umfassende Grundausrichtung menschlichen Lebens sicher die bedeutsamste und spannendste.
Wie unter dem Mikroskop scheinbar klares Wasser von Lebewesen wimmelt und dort, wo das menschliche Auge nichts sieht, sich ständige Bewegungen, der Aufbau von Strukturen, Kämpfe um den eigenen Lebensraum abspielen, so müssen wir uns auch die früheste Kindheit neu erschließen.
Die neun Mondmonate der Schwangerschaft sind neun Entwicklungsstufen des Beziehungssystems des Menschen, das man in vielen Kulturen als „Seele“ bezeichnet. Es ist der erste Durchgang der Entfaltung des eigenen Selbst-, der Beziehung zu anderen Menschen, der Behauptung seines Platzes in der Welt.
Mit der Geburt wird sichtbar, dass dieser unsichtbare Prozess, der völlig eingebettet zu sein scheint in biologische Entwicklungsschritte, auf einer höheren Zeitebene wiederholt werden soll. Das beginnt mit der Erkenntnis, dass die ersten neun Monate nach der Geburt als eine „soziale Schwangerschaft“ (Portmann) zu verstehen seien, idealerweise mit dem Stillen verbunden. Damit wiederum verbindet sich schon die Ahnung, dass sich die Neunereinheiten fortsetzen. Und tatsächlich bildet der kosmische Nukleus der Schwangerschaft einen zeitlich entsprechenden, höheren sozialen Nukleus menschlichen Lebens aus, der nach neun Schwangerschaftslängen (Kairos Lebensquanten) vollendet ist. Wir sprechen nun von der ersten Kairos Lebensphase. Sie endet mit etwa fünf Jahren und zehn Monaten.
Diese Zeit stellt die Ur-Verwirklichung der Beziehungskraft dar. Die bewusste Ausreifung der eigenen Persönlichkeit umfasst dann wiederum das Neunfache einer solchen Kairos Lebensphase, vollendet sich also etwa im Alter von 58 Jahren. Für Sigmund Freud ist in diesem Sinne das Kind „psychologisch der Vater des Erwachsenen“..
Im ersten Jahr treten die Ur-Autoritäten und ihre wahren Muster von Wort und Tat ins Leben. Dieser Schritt „wiederholt sich“ dann sichtbar in der zweiten Kairos Lebensphase (6-12). Was wir „Trotzphase“ nennen (ca. 3-4 Jahre) spielt sich erneut in Kairos Lebensphase fünf (25-32) ab, wenn der einzelne seinen eigenen „Kopf“ zu entwickeln hat. Spätestens im achten Lebensquant (fünftes Lebensjahr) erweist sich, wie tief die Kraft des Angenommenseins geht. Bis zum Alter von fünf Jahren erst ist die spezifisch menschliche Tiefschlafphase ausgebildet und damit der Grad an unbewusstem Sich-fallen-lassen-dürfen. Das Kind hat aber zugleich seine kindliche Wissenskompetenz ausgebildet, eine Sicherheit des individuellen Sprechens, Denkens und Verhaltens. Das verführt manche Eltern dazu, die sogenannte „Latenzphase“ überspringen zu wollen. Aber in diesem sechsten Jahr entsteht erst jene Ganzheit, die Voraussetzung dafür ist, das das Kind den neuen sozialen Prozessen der „Schule“ natürlich gewachsen ist.
Die Kairologie betrachtet das Gewebe der Beziehungskräfte. Sie achtet vor allem darauf, wie spätere Kairos Lebensphasen aus der Quelle der ersten schöpfen, wie sie die verschiedenen Aspekte des Urvertrauens, das nun abgespeichert ist, erproben, wie sie die Bestätigung der Ur-Muster suchen, wie sie nach der Stärkung der Kraft der Lebensbejahung oder nach Korrektur und Ersatz streben. Was hier nach Komplexität klingt, ist im Alltag manchmal ganz einfach: Jeder, der es am Morgen immer wieder schafft, sich auf seine Welt einzulassen, und die Kraft findet, wenigstens aufzustehen, greift damit auf sein gespeichertes Lebensvertrauen aus der ersten Kairos Lebensphase zurück.
Karl Hofmann