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Menschsein ist nicht ohne Wandlung.
Rainer Maria Rilke
Für Rilke, den großen Dichter schöpferischer Wandlung, ist Wandlung wesentlich mit dem Menschsein verbunden. Es ist nicht etwas, was hinzukommt oder wünschenswert wäre. Was wir hier nur ergänzen wollen, ist: Menschliche Wandlung hat ihre spezifische Zeit.
Glückliche Wenden oder nachtvolle Katastrophen müssen noch keine Wandlung bedeuten. Dies ist erst der Fall, wenn sie von jener Energie getragen sind, die den Menschen zu immer größerer Ganzheit führen will. Eine Ebene dieser Energieeinheiten stellen die Kairos Lebensphasen dar.
Den von ihnen gestellten Aufgaben, Kräften, Zeiten folgt unsere Wahrnehmung. Im Idealfall. Bei Kindern ist diese Wandlung der Art und Weise, wie wir in Beziehung zu unserer Wirklichkeit gehen, noch gut zu beobachten. Der Grund ist, dass die biologische und geistige Entwicklung in Kindheit und Jugend noch eng gekoppelt ist mit diesen menschlichen Beziehungskräften.
Daher ist es kein Zufall, dass sich mit etwa drei Jahren die Art der Kinderbetreuung ändert („Kindergarten“), man weltweit mit etwa sechs Jahren mit „Schule“ beginnt, etwa mit zwölf Jahren sowohl die Pubertät einsetzt als auch die Art der Wahrnehmung („Sekundarschule“) sich ändert. Jeder weiß auch, dass sich um das Alter von 20 Jahren wiederum Selbstverständnis und Weltsicht neu auszurichten beginnen („Universität“).
Lassen sich nun Kairos Lebensphasen der Zeit nach genau bestimmen? Ja, sagen die Anthroposophen, und legen ihr System von 7-Jahres Einheiten vor. Es beginnt mit der Geburt und ist geistig abgeleitet von der heiligen Zahl 7, wie sie zum Beispiel die Pythagoräer der Antike hochgehalten haben. Nein, sagen viele Vertreter der Humanwissenschaften. Alle menschlichen Zeiteinheiten formen sich aus der Verbindung von Anlage und Umwelt, innerer Freiheit und äußerem Zwang. Unsere Rhythmen und Zyklen sind elastisch und alle Einteilung in Phasen kann sich nur auf Durchschnittswerte beziehen.
Die Kairologie geht über beide Positionen hinaus. Für sie ist der Mensch vom ersten Moment an ein ganzheitliches Wandlungssystem. Seine Lebensphasen sind mehr als das Produkt von Natur und Umwelt. Seine Zeiteinheiten fallen aber auch nicht vom Himmel. Einheit stiftender Geist und sich differenzierende Zeit-Evolution sind in ihm auf einer neuen Ebene vereint. Was immer mein Körper tut, mein Geist wahrnimmt, mein Herz fühlt, mein Wille anstrebt – es bildet auf einer Beziehungsebene ein einmaliges Gewebe. Um die Wandlung dieses Gewebes geht es. Was äußerlich bei den einen sehr nach Festigkeit oder Kontinuität ausschaut, bei den anderen sich als Chaos oder Sprunghaftigkeit zeigt, folgt innerlich einer zeitlichen Lebensordnung.
Der Philosoph Romano Guardini hat das schon vor 100 Jahren sehr schön beschrieben:
„Die Abfolge der Phasen geht ja nicht so vor sich, dass die eine mit glattem Schnitt zu Ende ginge, während die nächste als Ganzes neu ansetzte. Diese bereitet sich vielmehr schon früher vor, als sie zur Herrschaft gelangt, ebenso wie die zu Ende gehende länger in Gestalt und Wirkung bleibt, als ihre Maßgeblichkeit dauert. Anderseits geht der Übergang aber auch nicht so vor sich, dass die erste Lebensphase sich allmählich in die folgende verwandelte, sondern jede der beiden behauptet sich als Gestalt. (Romano Guardini, Die Lebensalter, 61)
Wie diese Wandlung sich konkret von Kairos Lebensphase zu Kairos Lebensphase vollzieht, werden wir in folgenden Inspirationen zu skizzieren versuchen.
Karl Hofmann