Kairos Inspirationen 2024/#21

.

Es gibt Gezeiten auch für unser Tun.

 

Shakespeare, Julius Caesar IV3

 

Am Meer wissen wir, dass wir auf Ebbe und Flut zu achten haben. Hier lässt sich eine glatte Oberfläche von hohen Wellen leicht unterscheiden.Im menschlichen Leben ist das schwieriger. Noch schwerer sind die untergründigen Strömungen zu erkennen, die manchmal bis zu einen persönlichen Tsunami führen.

 

Die Zeiten des Menschen ähneln den Gezeiten. Wie Ebbe und Flut der Anziehungskraft des Mondes folgen, so auch die Energien des Menschen. Nur dass in der Natur der Zusammenhang direkt, bei uns nur indirekt herstellbar ist. Wir haben den Mond in uns. Dass das für Wach- und Schlafzeiten gilt, ist bekannt. Das ist uns  mit der lebendigen Natur gemeinsam. Dass dies auch für jene Dimension gilt, die wir als typisch menschlich beschreiben, und zwar gewöhnlich als Einheit von Geist, Leib und Seele, ist weniger bekannt.

 

Man ist versucht, jeden, der davon nichts merkt, glücklich zu preisen. Denn er oder sie scheint frei von geistiger Sinnqual, von krankmachenden Beziehungen, von Lebensenttäuschungen zu sein. Und doch könnte auch das Gegenteil wahr sein. Statt in einer selbstverständlichen Sinngewissheit und ruhenden Geborgenheit zu leben, könnte auch gelten, dass jemand nur noch stumpf und abgeschnitten von einem echten menschlichen Leben dahinlebt.

 

Die meisten von uns ringen mit den Kräften der menschlichen Gezeiten. Diese drängen dich mit 20, in die Welt hinauszugehen, echte Liebe zu probieren. Sie drängen dich mit 30, dein Leben endlich eigenverantwortlich auszurichten. Sie lassen dich mit 50 sehr unzufrieden sein, wenn du kaum Früchte deiner Aufbauarbeit und deines Engagements sehen kannst. Sie umfassen aber auch Zeiten, in denen neue Ideen persönlichen Lebens- und Weltverhaltens leise anklopfen und gehört werden wollen. Und sie bieten dir auch Verschnaufpausen an, in denen du dankbar oder erschöpft in einem Zwischenraum stehst, in dem es weder zurück noch vorwärts zu gehen scheint.

 

Viele von uns machen diese Gezeiten des Menschseins ganz unbewusst durch, freuen sich an diesem und jenem oder bilanzieren nüchtern oder leiden an ihren Lebenszweifeln. Es ist aber auch möglich, ein tieferes Verständnis für die Logik und Notwendigkeit dieser Wandlungen zu gewinnen. Es ist möglich, seinen Kairos nicht nur zu leben, sondern ihn auch zu verstehen und damit gelassener mit seinen Gezeiten umzugehen.

 

Karl Hofmann

Blog durchsuchen