Kairos Inspirationen 2024/#20

.

Wer gewöhnt ist, alten Wein zu trinken, will keinen neuen Wein, und spricht: der alte Wein ist milder.

 

Lukas 5,39

 

Bei vielen findet sich eine instinktive Abneigung gegenüber einem neuen Blick auf die Wirklichkeit. Das Alte ist vertrauter. Die Begriffe und Zusammenhänge fügen sich leichter und kommen selbstverständlicher über die Lippen. Daher wird Neues gewöhnlich so nahe gebracht, dass es sich anschmiegt an Bekanntes. Das kann eine Person sein, deren Autorität oder sympathische Wirkung längst anerkannt ist. Oder ein neuer Geschmack verbirgt sich hinter altvertrauten Bezeichnungen. Oder das Neue wird einfach mantramäßig tausendfach wiederholt ohne weitere Begründung oder Rechtfertigung.

 

Die Rede von Kairos, wie sie von uns gebraucht wird, ist neu. Die Vorstellung von einem „günstigen Augenblick“ versetzt das Neue wieder in die alte Vorstellungswelt. Das ist, wie wenn ich mir die Atomkraft auf der gleichen Ebene wie die Kraft des Wassers oder der Luft vorstelle.

 

Der Vergleich ist nicht zufällig gewählt. Denn das Verständnis der Welt des Kairos schließt direkt an das Atomare an. Kairos ist Ausdruck der Kernkraft des Menschen. Wie nichts, was ist, ohne atomare Bindekräfte existiert, so durchdringt Kairos das ganze Leben des Menschen. Alle Wahrnehmung wird dadurch zu meiner und unserer Wahrnehmung. Sie übersteigt immer die physiologische Realität der Sinne, wie auch das rationale Bewusstsein.

 

Mein inneres Ja oder Nein zu einem anderen Menschen und seinem Reden, Verhalten oder gar Dasein wandelt sich ständig. Manchmal merken wir es selbst, dass wir bei einem Gedanken des anderen äußerlich zustimmen, während wir empfinden, dass dieser in Wirklichkeit uninteressant, langweilig, schief oder gar misstrauisch machend auf uns wirkt.

 

Sich seinen Kairos bewusst zu machen, ist meist nicht einfach. Ich kann es versuchen durch Umschalten meines Bewusstseins. Dann denke ich auf einmal vom Kairos her. Aber dadurch mache ich ihn selbst zu einem Gegenstand meines Bewusstseins.

 

Seine Kraft und Botschaft wird mir  erst dann wirklich zugänglich, wenn ich einen anderen Weg gehe. Den Weg des inneren Hörens oder Sehens. Des Offenwerdens und eines damit verbundenen Leerwerdens, das Mystiker und Weise manchmal beschreiben. Meister Ekkehard, der mittelalterliche Mystiker, hat immer wieder im Blick auf die Wahrnehmung des Einzelnen davon gesprochen. Auch der gemeinsame Kairos zeigt sich weniger in der Formulierung von idealen. Er ist eher zu fassen als das, was manche „Idee“ nennen.

 

So ist Kairos einerseits ein ganz neuer Zugang zur menschlichen Lebensbewegung. Andererseits kommt seine Wirklichkeit jedem tiefer Suchenden in den 1000 Zeugnissen der Weisen, der Mystiker, der großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte entgegen. Sich damit zu beschäftigen, macht es leichter, selber mit dem Neuen vertraut zu werden.

 

Karl Hofmann

Blog durchsuchen